Wirtschaftspolitischer Beitrag
Fürsorge verbindet
Den meisten Menschen fehlt es nicht an Werten. Aber sie lassen sie nur für Gruppen gelten, denen sie sich zugehörig fühlen. Diese inneren Grenzen gil
Für die Weltgemeinschaft beginnt eine neue Ära, die „Ära der grenzenlosen Probleme“. Je enger wir miteinander verbunden sind, ökonomisch wie technologisch, desto mehr werden sich auch unsere Probleme miteinander verbinden. Der Klimawandel etwa, genauso technologische Umbrüche wie die Digitalisierung, aber auch soziale und demografische Umwälzungen, die zu nie da gewesenen Wellen von Migration führen, sind Beispiele solcher Probleme. Sie können nur durch Kooperation über Grenzen hinweg gelöst werden.
Allerdings leben wir in einer Welt voller nationaler, kultureller und religiöser Grenzen, von denen einige in letzter Zeit sogar schärfer geworden sind. Religiöse und ethnische Konflikte nehmen zu, die wachsende Ungleichheit zwischen und innerhalb von Ländern kreiert neue Grenzen der Identität. Viele meinen, dass diese Grenzen nur durch ein gemeinsames Wertegerüst zu überwinden sind. Können wir solche gemeinsamen Werte finden? Und können solche Werte das notwendige Maß an Kooperation bringen?
Experten unterschiedlicher Disziplinen sind sich einig: Ja, wir können ein gemeinsames Wertegerüst finden, an das sich die Mehrheit der Weltbevölkerung gebunden fühlt. Diese Werte beinhalten etwa Nächstenliebe, Fairness, Loyalität und die Bewahrung von Freiheit. Die Antwort auf die zweite Frage lautet jedoch anscheinend Nein. Grund dafür ist, dass viele unserer gemeinsamen Werte miteinander in Konflikt stehen und es keine Übereinkunft gibt, welche Werte in welcher Situation angewendet werden.
Klar wird das, wenn man sich die verschiedenen Quellen von Moral vor Augen führt, die unsere gemeinsamen Werte legitimieren: (1) Das zu tun, was Gott vorschreibt – der Ansatz vieler Religionen. (2) Ein guter Mensch zu sein und nach entsprechenden Tugenden zu leben. (3) Das Richtige zu tun – diesem Gedanken liegen unsere Vorstellungen von Menschenrechten, Tier- sowie Umweltschutz zugrunde. Und (4) die Idee, das zu tun, was zu den besten Konsequenzen führt – diese Quelle von Moral dominiert die Ökonomie. Keiner dieser Ansätze kann jedoch für eine einheitliche Anwendung unserer Werte sorgen und jedem eindeutig sagen, was unter welchen Umständen zu tun ist.
Auch wenn wir gemeinsame Wertvorstellungen haben, können Konflikte entstehen, weil wir gegenüber Mitgliedern unserer Gemeinschaft andere Werte anwenden als gegenüber Fremden. Daher sind unser Gewissen, unsere Tugenden, unser Gerechtigkeitssinn und unser Verständnis von Konsequenzen so ineffektiv, wenn es darum geht, Konflikte zu lösen. Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Um unsere globalen Probleme zu lösen, müssen wir nicht nach gemeinsamen Werten suchen – die haben wir schon. Vielmehr müssen wir die Grenzen dessen erweitern, was wir als Gemeinschaft betrachten.
Soziale Gruppen – sei es die Familie, eine Bürogemeinschaft oder auch ein Sportverein – haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Innerhalb der jeweiligen Gruppe wird die Perspektive der übrigen Mitglieder berücksichtigt. Die Auswechselbarkeit dieser Perspektiven ermöglicht es uns automatisch, innerhalb unserer Gruppen zu kooperieren. Die Werte der Gruppe finden innerhalb der Gruppe Anwendung, nicht aber gegenüber Außenstehenden.
Unter allen unseren Wertvorstellungen gibt es eine, die zur größten Gemeinsamkeit unserer Perspektiven führt und daher das umfassendste Motiv zur Kooperation mit sich bringt. Es ist der Wert der Fürsorge, erweitert um Güte, Wohlwollen und Liebe. Dieser Wert bedeutet, sich um das Wohlergehen anderer innerhalb einer Gruppe zu kümmern, ihr Leid zu lindern.
Gräueltaten etwa im Krieg sind immer dann möglich, wenn ein Austausch der Perspektiven unmöglich erscheint und es am Grundwert der Fürsorge fehlt. Um töten zu können, wird Soldaten systematisch abtrainiert, ihre Feinde als Menschen zu sehen. So wird die Perspektive des Feindes ausgeblendet und das Fürsorgeempfinden ausgeschaltet. Wer tötet, kann also durchaus Werte haben – er wendet sie nur nicht auf sein Opfer an. Auf den Punkt gebracht: Selbst den Nazis fehlte es nicht an einem Wertegerüst – sie wendeten ihre Werte bloß nicht auf Juden an, weil sie die Welt nicht mit jüdischen Augen sahen.
Dieses Dilemma hat der Philosoph und Neurowissenschaftler Joshua Green einst als das „Wir-Sie-Problem“ bezeichnet. Nach seiner These hat die Evolution die Menschen zwar darauf vorbereitet, mit dem „Ich-Wir-Problem“ umzugehen, also die eigenen Interessen zugunsten ihrer sozialen Gruppen zurückzustellen. Den Umgang mit dem „Wir-Sie-Problem“, also mit Mitgliedern anderer Gruppen zu kooperieren, mit denen uns erst die Globalisierung in Kontakt bringt, hat uns die Evolution aber nicht beigebracht. Wir müssen erst noch lernen, Grenzen zu überwinden und den Kreis unserer Fürsorge zu erweitern. Das ist die zentrale Herausforderung. Erst wenn uns das gelungen ist, können wir unsere globalen Probleme lösen.
Grundsätzlich haben wir das Potenzial, diese Herausforderung zu bewältigen. Notwendig ist aber eine neue Vision, die eine gemeinsame Identität über Grenzen hinweg kreiert. Es ist weder notwendig noch wünschenswert, dafür unsere Identitäten aufzugeben. Wir brauchen eine globale Identität, die vorhandene Identitäten ergänzt und die uns einen Perspektivwechsel ermöglicht.
Wir brauchen soziale Normen, Bildung, Gesetze und Institutionen, um unseren Kreis der Fürsorge zu erweitern. Europas Flüchtlingskrise könnte hierfür einen wichtigen Impuls geben. Zwingt sie uns doch, über unseren nationalen, kulturellen und religiösen Tellerrand zu blicken und uns in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen. Nur wer die Welt durch die Augen des anderen sieht, wer Fürsorge für ihn empfindet, ist auch fähig und willens, mit ihm zu kooperieren.
(Dieser Artikel ist am 31.10.2015 als Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung erschienen und greift die wesentlichen Gedanken der Eröffnungsrede zum Global Economic Symposium 2015 auf.)