Die Geschichte des IfW Kiel
Das Kiel Institut für Weltwirtschaft gibt es bereits seit mehr als 100 Jahren. Es blickt auf eine reiche, wechselvolle Geschichte zurück, in der sich seine wissenschaftliche Arbeit stets sowohl an den politischen Strömungen als auch den weltwirtschaftlichen Herausforderungen der jeweiligen Epoche ausgerichtet hat. Seit seiner Gründung besitzt es hohe Reputation in der theoretisch fundierten und empirisch gestützten Bearbeitung aktueller weltwirtschaftlicher Fragen. Diese Reputation büßte es in der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft vorübergehend ein, als es sich während der NS-Zeit in den Dienst des Regimes stellte.
Heute
Unsere Mission:
Globalisierung verstehen und gestalten
Das IfW Kiel versteht sich heute als das Forschungsinstitut für Globalisierungsfragen in Deutschland. Unsere Forscherinnen und Forscher untersuchen die Triebkräfte und Folgen internationaler wirtschaftlicher Aktivität, der Integration und Desintegration globaler Märkte sowie Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns in offenen Volkswirtschaften. Das Institut analysiert die Weltwirtschaft nicht bloß als Summe nationaler Volkswirtschaften, sondern als globalen Wirtschaftsraum, den es zu verstehen und zu gestalten gilt. Wir sehen unsere Aufgabe darin, weltwirtschaftliche Herausforderungen frühzeitig zu erkennen und umsetzbare Lösungsansätze zu entwickeln, die mit offenen Märkten und Wettbewerb vereinbar sind und den Lebensstandard aller Menschen im Blick haben.
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2004 — 2019
Das Institut stellt sich sozialwissenschaftlicher Verantwortung
Nach einer Interimsphase übernimmt 2004 mit dem amerikanischen Ökonomen Dennis J. Snowererstmalig ein nichtdeutscher Wissenschaftler die Leitung des Instituts. Er richtet die Arbeit konsequent an den Forderungen der Evaluierungen nach mehr wissenschaftlicher Qualität und internationaler Vernetzung aus. Zudem entwickelt das Institut neue Formen und Formate der wissenschaftlichen Beratung im Kontext breiterer sozialwissenschaftlicher Forschung. Beispiele dafür sind das Global Economic Symposium und der Weltwirtschaftliche Preis. Transferleistungen in der Ausbildung neben dem bewährten Postgraduiertenprogramm orientieren sich erstmalig am Bedarf junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in politischen Institutionen. Die interdisziplinär ausgerichtete Zusammenarbeit mit der Universität Kiel wird durch gemeinsame Professuren und den Leibniz-Campus Kiel Center for Globalization vertieft
Die Finanz-und Wirtschaftskrise von 2008 löst auch Diskussionen über das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaft aus. Das Institut weitet in der Folge seine Perspektive in Forschung und Beratung und nimmt erstmalig verhaltensökonomische Forschung in sein Forschungsprofil auf. Es beschäftigt sich mit den Zielkonflikten zwischen eigennützigem und gemeinnützigem Handeln von Individuen als einer wichtigen Richtgröße für relevante sozialwissenschaftlicher Forschung.
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1969 — 2003
Wegweiser in Zeiten weltwirtschaftlicher Schocks
1969 übernimmt Herbert Giersch die Führung des Instituts. Er verbindet schumpeterianische und keynesianische Forschungsansätze in einer klar auf wirtschaftspolitische Relevanz ausgerichteten Weise. Finanz-und realwirtschaftliche Schocks in der Weltwirtschaft greift er, international gut vernetzt, auf und verschafft dem Institut in Forschung und Politikberatung weltweit Gehör. Das Institut wird in dieser Zeit sowohl zum Netzwerk wie zur Bleibe vieler internationaler Forscherinnen und Forscher, die zu den Standortbedingungen in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung arbeiten. Klare Aussagen zu kommenden Herausforderungen (u.a. „Eurosklerose“) und deren Bewältigung provozieren in Politik und Öffentlichkeit kritische Gegenstimmen, die dem Institut den Ruf eines Hortes einseitiger Angebotspolitik verschaffen.
Gierschs Nachfolger Horst Siebert (Präsident von 1989-2003) setzt diese starke Präsenz in der Politikberatung auf nationaler (u.a. Sachverständigenrat) und internationaler Ebene (u.a. Internationaler Währungsfonds) fort. Auch unter seiner Führung greift das Institut in Forschung und Beratung rasch neue Herausforderungen systemischer Schocks (Wiedervereinigung, Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Osteuropa, Staatsschuldenkrisen) auf und eröffnet originäre Forschungsfelder in der Umweltökonomie. In den in dieser Epoche begonnenen regelmäßigen externen Evaluierungen der Leistungen des Instituts wird eine deutlichere Konzentration auf wissenschaftliche Exzellenz eingefordert.
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1945 — 1968
Wiedergewinnung moralischer Reputation und wissenschaftlicher Qualität
Nach einer Interimszeit bestimmen ab 1948 die Direktoren Fritz Baade und (ab 1961) Erich Schneider das Gesicht des Instituts. Baade gibt dem Institut dank seiner integren Persönlichkeit, seiner Kontakte zur internationalen Wissensgemeinschaft und seiner Vielseitigkeit als Manager, Politiker und Wissenschaftler die nach 1933 verloren gegangene moralische Reputation zurück. Unter seiner Ägide wird das Institut zum Treffpunkt späterer Nobelpreisträger zu Zukunftsthemen wie der Bekämpfung von Armut, Hunger, Ressourcenmangel und Aufrüstung.
Erich Schneider bestimmt die theoretische Ausrichtung des Instituts in Richtung keynesianisch geprägter Forschung und Lehre. Unter seiner Führung wird das Institut zum Ursprung vieler Hochschullehrerkarrieren und mit seiner herausragenden Bibliothek zum unabdingbaren Aufenthaltsort vieler Forscherinnen und Forscher und Lehrenden. In dieser Zeit beginnt das Institut, das weltwirtschaftliche Umfeld, das durch sektoralen Strukturwandel, globale Handelsliberalisierung und die allmähliche Vertiefung der europäischen Integration gekennzeichnet ist, in sein Forschungsspektrum einzubeziehen.
Erich Schneider – Abschiedsvorlesung von 1968 zum Nachhören
Am 18. Dezember 1968 hielt Prof. Erich Schneider, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft von 1961 bis 1968, seine Abschiedsvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sein Thema: „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der Wirtschaftswissenschaft (1918-1968)“. Später sprach er die Vorlesung in einem Studio auf Tonträger nach, um sie für die Öffentlichkeit zu bewahren.
In dieser Vorlesung rechnet er mit der Historischen Schule in Deutschland ab und sieht sich als Schüler und Wegbereiter der theoretisch fundierten angelsächsisch-skandinavischen Schule in der Tradition von Gustav Cassel, Alois Schumpeter, John Maynard Keynes, Erik Lindahl, Ragnar Frisch, Bertil Ohlin und Gunnar Myrdal. Zum Abschluss der Vorlesung äußert er große Sorge über die fortschreitende Bürokratisierung der deutschen Universitäten.
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1933 — 1945
Willfährig im Dienste der Kriegswirtschaft
Die Nationalsozialisten berufen 1933 den Gründungsdirektor Bernhard Harms ab und setzen zunächst Jens Jessen und kurz danach Andreas Predöhl als Direktoren des ab 1934 „Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel“ genannten Instituts ein. Predöhl wird mit seiner Willfährigkeit gegenüber dem Nazi-Regime von 1934 an die gesamte Arbeit des Instituts bis Kriegsende prägen.
Mit der gewaltsamen Vertreibung der führenden Forscher der Astwik-Abteilung verliert das Institut seine Forschungskompetenz und wird zur deutschen Zentrale empirischer Evidenz über die Weltwirtschaft.
An die Stelle von Innovation in den Köpfen tritt das Wissen von Daten und Dokumenten, das ab 1939 widerstandsfrei der „wehrwirtschaftlichen“ Forschung unterworfen wird.
Dank einer vorausschauenden Umsiedlung der Bibliothek bleibt der gesamte Literatur- und Archivbestand von der Kriegszerstörung in Kiel verschont.
Der Historiker Gunnar Take hat in seiner Dissertation umfänglich die Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus aufgearbeitet. Sie ist 2019 als Buch erschienen unter dem Titel „Forschen für den Wirtschaftskrieg: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus“.
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1914 — 1933
Von der Informationskompetenz zur Spitzenforschung
Im Februar 1914 unter dem prägenden Einfluss des Gründungsdirektors Bernhard Harms ins Leben gerufen, stellt sich das „Königliche Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel“, so der Gründungsname, zunächst in den Dienst der Kriegsforschung. Es bietet seinen umfangreichen Materialbestand über die kriegsführenden Mächte dem monarchistischen Deutschland für die Beratung zu wehrkriegsrelevanten Fragestellungen an.
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Umzug in das neue Quartier am Fördeufer mit räumlicher und personeller Expansion und der demokratisch geprägten politischen Neuausrichtung stellt Bernhard Harms ab 1920 die Weichen in Richtung Forschungsqualität. Auftragsgebundene Projektarbeit wird durch Grundlagenforschung ergänzt. Diese bündelt sich im Aufbau der Abteilung für Statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung (Astwik), die innerhalb von sieben Jahren bis 1933 Weltruf in der Konjunkturforschung erlangt.
Das von Harms verfolgte Ideal, eine theoretisch fundierte Weltwirtschaftslehre zu entwickeln, wird allerdings weder von ihm selbst noch von der Astwik umgesetzt.
Sein letzter Leiter, Gerhard Colm (geb. 30. Juni 1897, gest. 26. Dezember 1968) prägt die Forschungskompetenz des IfW Kiel, insbesondere auf dem Gebiet der mittelfristigen Budgetplanung und der Wachstumswirkungen von Staatsausgaben. Er und seine Familie werden 1933 mit Gewalt aus dem Institut und aus Kiel vertrieben und finden in den USA eine neue wissenschaftliche und private Heimat. Gerhard Colm wird in den Kriegsjahren ein wichtiger Wirtschaftsberater von Präsident Roosevelt und in den Nachkriegsjahren von Präsident Truman. Dieser betraut ihn mit der Konzeption und Durchführung der deutschen Währungsreform 1948. 1964 kehrt er anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des Instituts nach Kiel zurück und erhalt in Würdigung seiner wissenschaftlichen Verdienste den erstmalig verliehenen Bernhard-Harms Preis. In seinen letzten Lebensjahren widmet er sich in den USA vor allem weltwirtschaftlichen Fragestellungen mit Schwerpunkt auf den Aufbau leistungsfähiger Staatshaushalte in Entwicklungsländern.