Wirtschaftspolitischer Beitrag

Europa und die globale Wirtschaftsordnung

Cover Kiel Focus Atomium in Brussels

Autor

  • Gabriel Felbermayr
Erscheinungsdatum

Der internationale Handel hat der Welt viel Wohlstand beschert, aber ausgerechnet die größten Profiteure stehen dem Freihandel heute feindlich gegenüber. In der neuen Ära geostrategischer Konkurrenz riskiert die Europäische Union, ins Hintertreffen zu geraten, wenn sie sich nicht weiterentwickelt.

Warum verzichten Länder freiwillig auf Teile ihrer nationalen Souveränität und unterwerfen sich internationalen Regeln und Institutionen? Ganz zweifellos hat ein solches Handeln Vorteile: Die internationale Kooperation erlaubt eine tiefgreifende Arbeitsteilung, die wiederum eindeutig ein bestimmender Faktor für den allgemeinen wirtschaftlichen Fortschritt ist. Eine einfache Beobachtung zeigt aber, dass diese Kooperation begrenzt ist: Nationale Grenzen bestehen nach wie vor und Nationalstaaten haben klar definierte Ausdehnungen.

Das Beispiel der europäischen Integration

Um die ökonomische Logik der internationalen Integration der Märkte und Institutionen zu veranschaulichen, ist es hilfreich, sich Europa vor Augen zu halten, den bei weitem am stärksten integrierten transnationalen Wirtschaftsraum.

Europa gründet auf der Idee, dass seine Mitglieder eine Reihe grundsätzlicher Überzeugungen über die geeignete soziale und wirtschaftliche Ordnung teilen. Nur weil sie über diese gemeinsame Basis verfügten, waren die Länder in der Lage, einen gemeinsamen Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung zu schaffen, sowie die dazu gehörenden Institutionen. Von Anfang an erwarteten viele Denker, dass die nationalen Wertesysteme sich einander annähern würden und mit der Zeit ein unverwechselbar europäisches Modell entstehen würde. Die Gründung der Währungsunion ist das beste Beispiel für diese Hoffnung. Brunnermeier, James und Landau haben jedoch überzeugend zeigen können, dass sich Europa noch immer mitten in einem Kampf der Ideen befindet, die sich oft an nationalen Einstellungen orientieren, und dass sich eine gemeinsame europäische Denkweise erst sehr langsam ausbildet (Markus K. Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau, Euro: Der Kampf der Wirtschaftskulturen, München 2018). Der Mangel an Konvergenz bei den Ideen ist ein Problem: Je stärker sich die Länder im Hinblick auf ihre Präferenzen unterscheiden, desto mehr wird jedes gemeinsame Regelwerk, das von einer zentralen Instanz (Brüssel) auferlegt wird, von der idealen Vorstellung nationaler Präferenzen abweichen.

Eine gemeinsame Denkweise reicht allerdings nicht aus, um einen gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen institutionellen Rahmen dauerhaft zu festigen. Selbst wenn viele Überzeugungen geteilt werden, können die Interessen auseinander gehen. Die europäischen Staaten unterscheiden sich hinsichtlich ihrer gewachsenen Institutionen, nach der Art ihrer komparativen Vorteile und ihrer Geographie. Die Wirtschaftstheorie erklärt deshalb ohne Umschweife, dass die Gewinne aus dem EU-Handel für die Länder verschieden ausfallen: kleine, zentral gelegene Länder mit komparativem Vorteil im verarbeitenden Gewerbe profitieren mehr von der europäischen Integration als größere, peripher gelegene, dienstleistungsorientierte Mitgliedstaaten. Felbermayr et al. belegen dieses Argument in einem modernen quantitativen Simulationsmodell für Europa (Gabriel Felbermayr, Jasmin Gröschl und Inge Heiland, Undoing Europe in a New Quantitative Trade Model, Reihe ifo Arbeitspapiere 250, ifo Institut und Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, 2018). Großbritannien, so stellt sich heraus, hat von der Europäischen Union am allerwenigsten profitiert. Der Grund dafür sind die relativ niedrigen Handelskosten mit Ländern außerhalb der Europäischen Union (u.a. wegen der geringen Sprachbarrieren), zudem ist der heimische Markt der zweitgrößte von allen EU-Mitgliedstaaten und die Art komparativer Vorteile beinhaltet Nettoexporte in die Dienstleistungssektoren, bei denen der europäische Binnenmarkt relativ unterentwickelt ist. Der Nutzen einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist daher im Vereinigten Königreich geringer als anderswo.

Hinzu kommt, dass man heterogene Präferenzen in Betracht ziehen muss. Doch selbst wenn die Länder vollkommen identische Präferenzen hätten, hat die Abgabe nationaler Souveränität, um die Gewinne aus der internationalen Marktintegration zu steigern, einen Preis: Länder können jederzeit von idiosynkratischen Schocks erschüttert werden und schätzen daher vernünftigerweise die Möglichkeit einer Feinabstimmung von Regeln in ihrem Interesse. Ob man an dem europäischen Integrationsprojekt teilnehmen will, hängt also von einem Tauschgeschäft ab: Solange die Gewinne aus einer verstärkten Integration die Kosten übersteigen, treibt man die Sache voran; wenn aber die Vorteile gegenüber den Nachteilen nicht mehr überwiegen, hält man die Entwicklung an. Und wenn sich die Verhältnisse ändern, könnten die Länder ihre Beteiligung durchaus überdenken wollen.

Ein solches Modell der regierenden ökonomischen Logik kann dazu dienen, die Grenzen des Projekts einer vertieften europäischen Integration zu bestimmen. Darüber hinaus kann es in einem globalen Maßstab erklären helfen, warum manche Staaten viel stärker als andere dazu neigen, nationale Souveränität an internationale Organisationen wie etwa die Welthandelsorganisation (WTO) abzutreten. Es scheint, als könnten die in Europa gelernten Lektionen nützlich sein, wenn es um die Neugestaltung von Strukturen globaler Governance geht. Als wichtigste Einsicht legt die europäische Erfahrung nahe, dass eine sehr komplexe Welt vermutlich einen so vielschichtigen institutionellen Rahmen erfordert, wie ihn Europa entwickelt hat und noch weiterentwickeln muss.

Die Welthandelsorganisation im Alter von 25 Jahren

Die WTO wurde am 1. Januar 1995 gegründet. Sie war das Ergebnis von Verhandlungen während der sogenannten Uruguay-Runde, die 1986 begann und bis 1993 fortgeführt wurde. Inmitten dieser Verhandlungsphase brach der Kommunismus sowjetischer Prägung in Europa zusammen. Zum damaligen Zeitpunkt war die Ansicht, das westliche Modell liberaler Demokratien und Marktwirtschaften habe über alternative Systeme gesiegt, weit verbreitet. 1992 veröffentlichte Francis Fukuyama sein berühmtes Buch Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, in dem er die Idee vertrat, die geostrategische Rivalität sei an ihr Ende gekommen und die Zukunft werde einem einzigen System und nicht dem Systemwettbewerb gehören (Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, München 1992.). Die WTO erweiterte das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), das ab 1948 ausgearbeitet worden war, und sah Bestimmungen für den Handel mit Dienstleistungen (GATS, das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) und zum Schutz des geistigen Eigentums vor. Im Unterschied zum GATT wurde die WTO mit einem durchdachten System zur Streitschlichtung ausgestattet.

Die WTO war in vielerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Ihre Mitgliederzahl ist von 128 hauptsächlich nicht-kommunistischen GATT-Mitgliedern auf 164 Mitgliedstaaten angewachsen, unter denen sich frühere Systemkonkurrenten wie China, Russland, Vietnam und natürlich fast alle ehemaligen kommunistischen Länder Europas befinden. Sie hat den Welthandel in einer Phase außergewöhnlicher Expansion beaufsichtigt.

Trotzdem ist sie in eine existenzielle Krise geraten. Ihr Organ zur Streitbeilegung, das »Schiedsgericht« des multilateralen Systems ist mittlerweile nicht mehr funktionsfähig, da es die Vereinigten Staaten seit der Regierung Barack Obamas abgelehnt haben, die Ernennung neuer Richter zu bestätigen. Die WTO war nicht in der Lage, eine große Verhandlungsrunde zur Modernisierung ihrer Regeln, beispielsweise für den digitalen Handel, erfolgreich abzuschließen. Ein immer größerer Anteil des Welthandels wird durch Präferenzabkommen außerhalb der WTO geregelt und macht diese zunehmend überflüssig.

Die WTO krankt an der Tatsache, dass sie sehr groß geworden ist: Sie umfasst 164 Mitglieder mit sehr unterschiedlicher Wirtschaftskraft, auf verschiedensten Entwicklungsstufen und mit ganz anders gearteten politischen Systemen. Die Erstellung, Wahrung, Modernisierung und Durchsetzung eines einheitlichen Regelwerks für eine derart heterogene Zusammensetzung ist offenkundig keine einfache Aufgabe. Ebenso wie in der Europäischen Union profitieren die Mitglieder in ungleichem Maße von dem System, und sie bewerten die Kosten des Verzichts auf eine ungehinderte Handelspolitik ganz verschieden. Dies legt nahe, dass die Welt ebenso wie Europa ein mehrschichtiges System braucht, das über unterschiedliche Modelle der Integration verfügt: Ein vertieftes Modell für Mitglieder mit Kernstatus und ein flacheres für die Peripherie — wobei die Peripherie unter dem Gesichtspunkt der Bereitschaft und Fähigkeit von Ländern definiert ist, sich auf gemeinsame Regeln zu verpflichten.

Das Ende der Geschichte ist vorbei

Das grundsätzliche Problem im Zusammenhang mit der WTO ist, dass die Annahme eines »Endes der Geschichte« aus den frühen 1990er Jahren nicht mehr haltbar ist. Die Phase der Hyperglobalisierung, die in den 1990ern einsetzte und bis 2008 andauerte, führte zu einem Prozess wirtschaftlicher Konvergenz, in der die entstehenden Märkte schnell zu den westlichen Volkswirtschaften aufschlossen (Dani Rodrik, Das Globalisierungsparadox: Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft, München 2011). Sie brachte aber nicht die Annäherung der politischen Systeme, die viele erhofft hatten. China zum Beispiel verlangsamte den Prozess der Öffnung nach dem Beitritt zur WTO im November 2001 und stoppte ihn schließlich. Als die westliche Welt 2009 in die tiefste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg stürzte, konnte China eine Krise größtenteils vermeiden. Der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Systems, der im Washington-Konsens zum Ausdruck kommt, war infolgedessen im Westen erschüttert, während sich der Prozess ökonomischer Konvergenz dramatisch beschleunigte.

Die Welt ist heute allem Anschein nach zu einer Situation des Systemwettbewerbs zurückgekehrt, in der das westliche Modell von einer chinesischen Alternative herausgefordert wird, die nicht nur einem andersartigen Entwicklungsmodell folgt, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft einer ganz anderen Philosophie anhängt. Was noch schwerer wiegt, ist, dass die größte »westliche« Volkswirtschaft, die der Vereinigten Staaten, in ihrer Wirtschaftskraft gerade von ihrem »östlichen« Konkurrenten überholt wird.

Die WTO hat das Problem, für eine solche Konstellation nicht geschaffen worden zu sein. Ihr wichtigster Grundsatz ist, dass alle ihre Mitglieder dasselbe grundlegende Ziel verfolgen, welches darin besteht, das Pro-Kopf-Einkommen ihrer Bürger zu maximieren. Unter dieser Annahme haben die Wirtschaftswissenschaftler Kyle Bagwell und Robert Staiger gezeigt, dass die WTO-Prinzipien der Reziprozität und Nichtdiskriminierung ein stabiles kooperatives Gleichgewicht erzeugen, trotz der kurzfristigen Versuchung eine Beggar-thy-neighbour-Politik zu betreiben (Kyle Bagwell und Robert W. Staiger (Hg.), The Economics of the World Trading System, Cambridge, MA 2002.). Die Kooperation wirft überall Wohlfahrtsgewinne ab. Solange keine geostrategische Rivalität gegeben ist, spielt es keine Rolle, ob die Gewinne ungleichmäßig verteilt werden — in der Regel zugunsten der ärmeren Länder.

Sobald aber die geostrategische Rivalität ins Bild kommt, sind die Staaten zunehmend besorgt um die Wirtschaftskraft ihrer eigenen Ökonomie im Vergleich zur wirtschaftlichen Stärke ihrer Konkurrenten. In einem vom »Ende der Geschichte« geprägten Denken würde dies irrelevant sein. Leider gelten die Bagwell-Staiger Befunde nicht mehr, wenn geostrategische Überlegungen ins Spiel kommen: Reziprozität und Nicht-Diskriminierung setzen nicht mehr die richtigen Anreize für Länder, auf den Einsatz von Zöllen und nicht-kooperativen Handelsstrategien zu verzichten. Sie werden vielmehr zu handelspolitischen Instrumenten greifen, um die geostrategischen Rivalen in Schach zu halten. Mit anderen Worten, WTO und GATT wurden geschaffen, um in einem Positivsummenspiel Kooperation hervor zu bringen. Zwischen 1948 und 1990, als das System nahezu ausschließlich für die Alliierten der Vereinigten Staaten galt und die Sowjetunion und deren Satellitenstaaten ausschloss, sowie in den ersten Jahren danach, als die Vorstellung vom »Ende der Geschichte« beherrschend war, funktionierte das gut. Doch die Regeln von WTO und GATT können kaum wirksam sein, wenn Staaten die Beherrschung und Ausnutzung durch andere fürchten. Eine solche Konfiguration ist ihrem Wesen nach ein Nullsummenspiel. In der Wirtschaftsgeschichte sind Zeiten des Systemwettbewerbs mit Blockbildung und dem Einsatz von Zöllen als Waffen verbunden (Douglas A. Irwin, Against the Tide: An Intellectual History of Free Trade, Princeton, NJ 1998).

Der Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften, Adam Smith, beschrieb dieses Problem bereits 1776 in seinem opus magnum Der Wohlstand der Nationen. Nachdem er die Vorteile einer internationalen Arbeitsteilung gelobt und vor den ökonomischen Kosten einer Beggar-thy-neighbour-Politik, mit der man andere Länder ruiniert, gewarnt hatte, verteidigt er in Buch IV den Navigation Act — eine Reihe politischer Maßnahmen, die zum Ziel hatten, die holländischen Segelschiffe aus britischen Häfen fernzuhalten —, mit der berühmten Formulierung, »trotzdem ist äußere Sicherheit wichtiger als Reichtum« (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 2001, S. 379. »Und trotzdem ist äußere Sicherheit wichtiger als Reichtum, so daß auch die Navigationsakte möglicherweise das weitsichtigste aller britischen Handelsgesetze sein dürfte.«). Die Briten betrachteten die Holländer als geostrategische Rivalen, denen man nicht trauen konnte: Man glaubte, dass sie die britischen Wettbewerber rücksichtslos ausbeuten würden, wenn man zuließe, dass sie die globalen Handelswege auf See beherrschen. Mangelt es an Vertrauen, nährt dies die Auffassung, dass eine ausgeprägte globale Arbeitsteilung zur Ausbeutung durch einen Handelspartner führen wird, wann immer dieser die Gelegenheit dazu hat, und die entsprechenden Sicherheitsbedenken scheinen dann von lebenswichtigem nationalen Interesse zu sein. 

Tatsächlich sieht das GATT in Artikel XXI eine Ausnahmebestimmung für die nationale Sicherheit vor, und Abschnitt 232 des Trade Expansion Act der USA von 1962 ermöglicht es dem US-Präsidenten, Zölle für Importe zu erheben, welche die nationale Sicherheit gefährden. Die Vereinigten Staaten beriefen sich auf diese Gesetzestexte, als sie im März 2018 Zölle auf Stahl und Aluminiumprodukte einführten, die auch Exporte von NATO-Bündnispartnern wie dem Vereinigten Königreich oder Deutschland betrafen. In diesem Fall ist es sehr schwierig, die Argumentation der Vereinigten Staaten zu verteidigen, doch das Vorhandensein dieser Instrumente sowohl im internationalen als auch im US-Recht zeigt, dass die von Adam Smith gemachte Einschränkung für die Gesetzgeber stets wichtig gewesen ist.

Im Gegensatz dazu hatten zumindest die Ökonomen gängiger Theorierichtungen die Neigung, solche Bedenken zu ignorieren, was wahrscheinlich aus konstruktiven und normativen Gründen heraus geschah. Erstens war die globale Ökonomie in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg so deutlich von den Vereinigten Statten dominiert, dass man innerhalb des bestehenden Machtsystems optimale Institutionen gefahrlos planen und Sicherheitsbedenken vernachlässigen konnte. Zweitens waren die Ökonomen verständlicherweise nicht gewillt, aggressive Strategien zu befürworten, die der Weltwirtschaft schaden konnten. Politische Sicherheitsbedenken sind deshalb in der Wirtschaftsanalyse der Handelspolitik so gut wie gar nicht zu finden (siehe dazu zum Beispiel die einschlägigen Kapitel in: Kyle Bagwell und Robert W. Staiger (Hg.), Handbook of Commercial Policy, Amsterdam 2016).

Krieg mit anderen Mitteln

Politische Denker sind da weniger zögerlich gewesen. Robert Blackwill und Jennifer Harris zeigen, wie ein großes, technologisch fortgeschrittenes Land wie die USA erfolgreich einen »Krieg mit anderen Mitteln« betreiben kann (Robert D. Blackwill und Jennifer M. Harris, War by Other Means: Geoeconomics and Statecraft, Cambridge, MA 2016). In einem solchen Kontext wird der Erfolg von handelspolitischen Maßnahmen nicht (nur) an den Folgen für das Pro-Kopf-Einkommen gemessen, sondern auch und vielleicht sogar überwiegend an den Folgen für das Bruttoinlandsprodukt des eigenen Landes im Verhältnis zu dem eines anderen.

Um den gegenwärtigen Zustand des globalen Handelssystems zu verstehen, muss man das geostrategische Gesamtbild berücksichtigen. Schon bevor der derzeit amtierende US-Präsident Trump ins Amt kam, arbeiteten die Vereinigten Staaten an Strategien, um den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas aufzuhalten. Das von Außenministerin Hillary Clinton entworfene aber von Trump verworfene Abkommen zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP) bezweckte, China zu marginalisieren; Studien, die dessen wirtschaftliche Folgen abschätzen, zeigen dies ganz deutlich (Rahel Aichele und Gabriel Felbermayr, The Trans-Pacific Partnership Deal (TPP): What are the Economic Consequences for In- and Outsiders?, in: GED Focus Paper, Bertelsmann Foundation 2015). Die aktuelle US-Regierung nutzt die Instrumente der Handelspolitik ausdrücklich, um den wirtschaftlichen Fortschritt in China zu bremsen. Die meisten empirischen Studien zum weiter andauernden Handelskonflikt lassen darauf schließen, dass der wirtschaftliche Schaden der gegenseitigen Verhängung von Zöllen absolut gesehen in China mindestens dreimal größer ist als in den USA. Wenn also US-Präsident Trump twittert, Handelskriege seien gut und leicht zu gewinnen, könnte er damit recht haben, wenn der Erfolg in einem Nullsummenspiel gemessen wird, in welchem die Siegerseite diejenige ist, die ihrem Konkurrenten die größeren ökonomischen Kosten zufügt (Tweet von @realDonaldTrump, 2. März 2018).

Eine riskante Strategie

Handelskriege verursachen jedoch wirtschaftlichen Schaden auf beiden Seiten der Kontrahenten und für die Weltwirtschaft als Ganzes. Zudem geht die Gefahr wirtschaftlicher Schäden nicht nur von Zöllen aus. Seit 2009 hat die Zuhilfenahme anderer Maßnahmen, die auf den Schutz von Märkten vor ausländischer Konkurrenz abzielen, systematisch zugenommen. Der Anstieg nicht-zolltariflicher Maßnahmen im Laufe der letzten zehn Jahre ist gut dokumentiert (Simon Evenett und Johannes Fritz, Jaw, Jaw not War, War: Prioritising WTO Reform Options, in: The 24th Global Trade Alert Report, London 2019). Sie sind in vieler Hinsicht noch problematischer als Zölle. Erstens sind sie längst nicht so transparent — ihre Kosten sind weniger offensichtlich, da sie oft geschickt als legitime Regulierung getarnt sind; zweitens erzeugen sie kein Zollaufkommen, sondern belasten die Handelspartner oft mit unwirtschaftlichen Zusatzausgaben; drittens bieten die internationalen Regeln weniger Möglichkeiten, ihnen etwas entgegenzusetzen. Beispiele lassen sich unschwer in den Richtlinien für das Beschaffungswesen finden wie im Buy American Act, außerdem im Wettbewerbsrecht, der Besteuerung und sogar in fiskalischen Anreiz-Programmen wie dem Car Allowance Rebate System (auch bekannt als »cash for clunkers«).

Während also die ökonomischen Kosten von nicht-zolltariflichen Maßnahmen höher sind als bei Zöllen, lassen sie sich ebenfalls einsetzen, um geostrategische Ziele zu verfolgen. Und schließlich lässt sich auch die Unsicherheit bezogen auf die Bedingungen des Marktzugangs strategisch nutzen. Die bloße Androhung eines Zolls kann schon ausreichen, um ausländische Produzenten dazu zu bewegen, einen großen Markt nicht mit Exporten, sondern aus regionaler Produktion vor Ort zu beliefern. In einer zunehmend unberechenbaren Welt werden große Volkswirtschaften ohnehin eher als sichere Häfen wahrgenommen. Für solche Länder mag es deshalb Anreize geben, Unsicherheit zu nähren.

Derartige Strategien sind zweifellos sehr riskant. Die Wirtschaftsgeschichte erteilte uns in dieser Hinsicht wichtige Lektionen. Nachdem die USA ihren Handelspartnern unter dem Smoot-Hawley Tariff Act von 1930 hohe Zölle auferlegt hatten und andere Staaten mit gleichartigen Maßnahmen darauf reagierten, bewegte sich der Welthandel in einer Abwärtsspirale und sank von 5,3 Milliarden Dollar auf gerade einmal 1,8 Milliarden Dollar im Jahr 1933. Die Wirtschaftshistoriker sind sich weitgehend einig, dass diese Zölle die Große Depression zwar nicht verursachten, aber zu ihrer Verlängerung beitrugen und auf diese Weise auch den Weg zu den Gräueln des Zweiten Weltkriegs ebneten.

Verlangsamung der Globalisierung

Die Wiederkehr von Handelsbeschränkungen hatte zur Folge, dass sich das Wachstum des internationalen Handelns verlangsamt hat. Da die Weltwirtschaft wächst, weitet sich auch der Handel nach wie vor aus, doch dessen Wachstumsrate ist im Verhältnis zur Gesamtproduktion gesunken. In der Ära der Hyperglobalisierung nahm der Warenhandel viel schneller zu als die Industrieproduktion: Die einzelnen Staaten importierten einen steigenden Anteil ihrer Binnennachfrage und exportierten einen steigenden Anteil ihrer Inlandsproduktion. Etwa seit dem Jahr 2008 übertrifft der Zuwachs im Warenhandel nicht mehr den der Produktion, der Prozess der Globalisierung ist zum Stillstand gekommen.

Der von der OECD in Statistiken zur Wertschöpfung abgebildete Handel zeigt, dass die globalen Wertschöpfungsketten seit ungefähr 2010 in manchen Ländern kürzer geworden sind, am ausgeprägtesten in China. Im Jahr 2000 enthielten chinesische Exporte im Wert von einem Dollar jeweils 40 Cent ausländischer Wertschöpfung in Form ausländischer Inputs; im Jahr 2015 war dieser Anteil auf 17 Cent gefallen (OECD, Trade in Value-Added Database, 2018, https://www.oecd.org/sti/ind/measuring-trade-in-value-added.htm, abgerufen am 10.12.2019).

Es wird noch immer darüber debattiert, in welchem Umfang die Zunahme des Protektionismus seit 2009 im Verhältnis zu anderen Einflüssen, wie beispielsweise dem von China vollzogenen fundamentalen Wechsel des Wachstumsmodells, zu diesem Phänomen beigetragen hat, das von dem britischen Wirtschaftsmagazin The Economist als »slowbalization« bezeichnet wurde. Es ist auch unklar, wie die Situation außerhalb des Warenhandels, der die internationale Handelsstatistik nach wie vor dominiert, aussieht. Der internationale Dienstleistungsverkehr und internationale Datenströme wachsen zwar weiter, doch es gibt ernst zu nehmende Fragen, was die Messung angeht, und die Entwicklung internationaler Transaktionen ist im Vergleich zu inländischen nicht einfach zu ermitteln.

Abgesehen davon wird wahrscheinlich der technologische Wandel gravierende Auswirkungen auf die Integration der Weltwirtschaft haben. Im Laufe der letzten 70 Jahre haben technische Veränderungen wie die Einführung des Containertransports oder die Digitalisierung der Lieferkette stärkere Auswirkungen auf das Wachstum des Handels im Verhältnis zu inländischen Transaktionen gehabt als die Politik. Deshalb kann man mit einiger Sicherheit annehmen, dass weitere Innovationen wie die künstliche Intelligenz zu einem zusätzlichen Rückgang der Handelskosten führen werden — zum Beispiel durch den Wegfall kostenträchtiger Übersetzungen in verschiedene Sprachen. Der schweizerisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Baldwin erwartet aus diesem Grund eine neue Globalisierungswelle, die die Struktur der nationalen Arbeitsmärkte vermutlich tiefgreifender verändern wird als vorangegangene Wellen (Richard Baldwin, The Globotics Upheaval: Globalization, Robotics, and the Future of Work, Oxford 2019). Gleichzeitig könnten die neuen Technologien zu einer Rückverlagerung der Produktion aus aufstrebenden Märkten mit großem Arbeitsangebot in kapitalstarke Märkte führen.

Was ist zu tun? Fünf Ideen für die neue EU-Kommission

Trotz dieser Unwägbarkeiten und aus den anfangs von mir skizzierten Gründen ist klar, dass die langsamer verlaufende Globalisierung für einige Länder problematischer ist als für andere. Deutschland zum Beispiel ist verwundbarer als irgendein anderes industrialisiertes Land mit einem Binnenmarkt ähnlicher Größe (hier ist es wichtig, zwischen Deutschland als einem Land mit immobilen Bürgern und deutschen Firmen zu unterscheiden, die in mehreren Ländern tätig sein können und deswegen in der Lage sind, sich gegen Ungewissheiten in der Handelspolitik zu wappnen). Ebenso scheint Europa als Ganzes verwundbarer zu sein als die USA oder China. Die Europäische Union hat obendrein keine offensiven geostrategischen Interessen wie die USA oder China, könnte aber dennoch, in den Konflikt hineingezogen zu werden. Es ist leicht vorstellbar, dass eine US-Regierung die Europäer um Unterstützung im Konflikt mit China ersuchen könnte, was den alten Kontinent vor die äußerst schwere Wahl stellen würde, entweder den Markt der Vereinigten Staaten oder den Chinas zu verlieren und sich den anderen zu erhalten.

Für die neue Europäische Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen gibt es fünf Punkte von strategischer Bedeutung, die aus der oben durchgeführten Analyse hervorgehen. Zunächst einmal muss sich Europa in einer Welt mit neuer geostrategischer Konkurrenz und einem Systemwettbewerb, in dem sich entscheidende Protagonisten von Nullsummen-Überlegungen leiten lassen, fragen, was seine eigenen Interessen sind und wie es sie verteidigen kann. Es ist äußerst wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Weltordnung geändert hat und nicht wieder zu dem freundlichen Ökosystem werden wird, das nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa 2006 von den USA dominiert wurde und der Konstruktion des europäischen Projekts so förderlich war. Das europäische Projekt hatte immer das Ziel, die wirtschaftliche Souveränität Europas zu fördern: Die Zollunion, der gemeinsame Binnenmarkt und die Währungsunion existieren deshalb, weil die EU-Mitglieder ihre Interessen in einer Koalition viel besser verteidigen können, als sie es einzeln für sich tun könnten. Genau deshalb haben sie ihre unabhängige Handelspolitik, ihre Regulierungsautonomie und ihre eigenen Währungen aufgegeben.

In der neuen Ära geostrategischer Konkurrenz riskiert die Europäische Union, ins Hintertreffen zu geraten, wenn sie sich nicht weiterentwickelt. Europa muss vor allem ein geeignetes Konzept ökonomischer Souveränität definieren und die dafür nötigen Ziele und Instrumente entwickeln. Der bisherige Schwerpunkt der Europäischen Union, der historisch auf den wirtschaftlichen Belangen anstatt auf Sicherheit und Verteidigung lag, muss ohne jede Naivität überdacht werden: In diesem Kontext sollte genau wie bei der wirtschaftlichen Integration der Nutzen größer sein als die Kosten, und in der multi-staatlichen Europäischen Union wird dieser Nutzen eher größer ausfallen als bei einem klassischen Nationalstaat. Das bedeutet erstens, dass der ökonomische Gesichtspunkt durchaus weiter eine Schlüsselrolle spielen wird, und zweitens, dass die Europäische Union lernen muss, wie sie ihre wirtschaftliche Macht nutzen kann, um ihre strategischen Ziele zu erreichen.

Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass die Europäische Union unter dem Vorwand, ihre wirtschaftliche Souveränität zu behaupten, einen verstärkten Protektionismus betreibt. Daher muss jedes verschärfte oder neu entwickelte Instrument wie beispielsweise die EU-Verordnung zur Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen mit einem Mechanismus gekoppelt werden, der diese Instrumente einem protektionistischen Gebrauch entzieht. Jedes neue Instrument muss für eine erstrebenswerte multilaterale Ordnung verallgemeinerbar sein — was allerdings nicht heißt, dass es notwendig mit der WTO konform sein muss, dieser 25 Jahre alten Institution, die unter dem nunmehr überholten Paradigma eines »Endes der Geschichte« entwickelt wurde. Wann immer es möglich ist, sollte die Europäische Union mit gleichgesinnten Verbündeten vorgehen, mit denen Freihandelsabkommen existieren oder in absehbarer Zeit zum Abschluss kommen, wie mit Kanada, Japan, Südkorea, Australien und so fort. Die Europäische Union sollte sich zudem vor neuen Illusionen hüten, wie etwa der Idee, die Verbreitung von Technologie ließe sich verhindern. Wir leben in einer globalisierten Welt und selbst mit neuen politischen Abgrenzungen wird sich der Ideenfluss nicht aufhalten lassen.

Für die Entwicklung einer Strategie zur Verteidigung ihrer ökonomischen Souveränität ist zweitens ganz wesentlich, dass die Europäische Union alles unternehmen muss, um ihren gemeinsamen Binnenmarkt zu verteidigen und weiter zu vertiefen. Er ist das bei weitem wertvollste Element im Projekt der europäischen Integration: Die Wohlfahrtsgewinne durch die EU gehen zu 75 Prozent oder mehr darauf zurück (Felbermayr et al. (Anm. 2)). Der gemeinsame Binnenmarkt ist das bestmögliche Verfahren zur Absicherung; wenn die internationale Ordnung zerfällt und neue Unsicherheiten aufkommen, dient er europäischen Produzenten, Verbrauchern und Arbeitnehmern als sicherer Hafen. Er vergrößert die Gewinne, die den Mitgliedstaaten durch ihre EU-Zugehörigkeit zuteil wurden, und verringert deshalb zentrifugale Kräfte. Der Zugang zu diesem Markt ist das wichtigste Pfund in internationalen Verhandlungen. Ein vertiefter und erfolgreicher gemeinsamer Binnenmarkt verleiht der Europäischen Union Macht nach außen. Aus diesen Gründen muss die Europäische Union die Einrichtung eines gemeinsamen digitalen Marktes, gemeinsamer Energie- und Strommärkte, die Entwicklung einer geeigneten Infrastruktur für diese Ambitionen, und die Bereitschaft, transnationale Transportwege weiter auszubauen, vorrangig behandeln. Außerdem muss sie den Schengen-Raum wiederherstellen und die Grenzkontrollen in ihm beenden. Ergebnisse von Untersuchungen verschiedener Quellen zeigen, dass die Reibereien innerhalb des Binnenmarkts nicht zurückgegangen sind, sondern zugenommen haben und deswegen die strategischen Interessen der Europäischen Union beeinträchtigen (siehe zum Beispiel DIHK-Deutscher Industrie und Handelskammertag, DIHK Survey on Single Market Obstacles, Berlin 2019).

Das Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäische Union ist natürlich ein schwerer Schlag für den internationalen Einfluss der Europäischen Union. Der Brexit bedeutet für den gemeinsamen Binnenmarkt einen größenmäßigen Verlust, dem ein Austritt der 19 kleinsten EU-Mitglieder gleichkäme. Europa kommt daher nicht umhin, Modelle auszuarbeiten, mit denen es die Länder an der europäischen Peripherie — wie Großbritannien nach dem Brexit, die Türkei oder die Schweiz — so eng wie möglich an den Binnenmarkt binden kann. Europa sollte diesen Ländern, die der Europäischen Union im eigentlichen Sinne nicht angehören, unbedingt anbieten, in einen Zollverbund einzutreten. Ein solches Abkommen würde sie zwar nicht so stark einbinden können wie der EU-Binnenmarkt, könnte jedoch die Gütermärkte vollständig einbeziehen. Zumindest auf diesem Gebiet würde die Europäische Union ihre internationale Reichweite wahren oder sogar ausweiten.

Der dritte Bereich, der für die Verteidigung ökonomischer Souveränität von Bedeutung ist, betrifft die Währungsunion. In vielen Ländern wird der Euro nahezu ausschließlich als ein währungspolitisches Projekt betrachtet. Die Diskussion dreht sich infolgedessen fast immer um Kreditflüsse zwischen den Zentralbanken (Targetsalden), Zinssätze oder Lockerung der Geldmenge (quantitative easing). Manchmal betonen die Handelsökonomen, dass es bei dem Euro auch um Transaktionskosten geht. Sie zeigen uns, dass die Einführung des Euro den Handel unter dessen Teilnehmern tatsächlich gefördert hat (Gabriel Felbermayr und Marina Steininger, Revisiting the Euro’s Trade Costs and Welfare Effects, in: Journal of Economics and Statistics, 239 (5-6), S. 917-956).

Der Euro wird jedoch viel zu selten als ein geostrategisches Instrument gedacht. Dies könnte bedeuten, auf dem Gebiet der Währungspolitik Kompromisse einzugehen. Um die Rolle des Euro als internationale Reservewährung auszubauen, ist zum Beispiel ein ausreichend großes Angebot von sicheren auf Euro ausgestellten Bonds von größter Bedeutung. Dies ließe sich erreichen, indem man European Safe Bonds (ESBies) einführt.

Das vierte Gebiet, das in Angriff genommen werden muss, ist die internationale Handelspolitik. Die WTO als Eckpfeiler der multilateralen Ordnung befindet sich in einer existenziellen Krise. Wie bereits erklärt wurde, erstreckt sich die Krise auf sehr grundsätzliche Fragen, die mit dem Systemwettbewerb aufkommen, der nicht so schnell wieder verschwinden wird. Die Europäische Union muss deswegen einen »Plan B« entwickeln. Mit Kanada hat sie schon ein Abkommen über eine Ersatzinstitution für die WTO-Berufungsinstanz geschlossen; sie sollte dies weiterentwickeln und auf so viele Staaten wie möglich ausdehnen. Europa muss sich überhaupt auf eine Welt vorbereiten, in der die WTO noch mehr Schaden nehmen könnte, als es jetzt schon der Fall ist. Artikel XXI des GATT-Abkommens zum Beispiel, der es den Mitgliedern gestattet, nationale Sicherheitsbedenken anzuführen, um Handelskonzessionen aufzuheben, kommt mittlerweile häufiger zur Anwendung, was die Unsicherheiten in der Handelspolitik weltweit wesentlich verstärkt. Europa muss mehr tun, um die Kernelemente der multilateralen Ordnung zu verteidigen, und wenn nötig, mehr Druck ausüben.

Dies erfordert allerdings Glaubwürdigkeit. Europa muss über bloße Lippenbekenntnisse hinausgehen. Man ist den Stahlzöllen von Trump gefolgt, indem man eigene Stahlzölle gegen Drittländer wie Brasilien, die Türkei oder Südkorea verhängt hat, um zu verhindern, dass deren Stahlexporte nach Europa umgeleitet werden. Ich denke, das ist ein Fehler. Wir brauchen einen Club der Willigen — Staaten, welche die WTO erhalten wollen. Die WTO hat 164 Mitglieder, die USA ist eines davon und China ein anderes, aber es gibt noch 162 weitere. Viele von ihnen warten auf eine Macht, die eine Führungsrolle übernimmt. Europa muss diese Führung übernehmen — wer sonst könnte es? — und eine konstruktive Rolle bei der Modernisierung der WTO spielen, die grüner und flexibler werden sollte, ohne zu beanspruchen, ein einziges Modell zu haben, das für alle Staaten gleich gut funktioniert.

Schließlich sollte Europa zuversichtlicher sein, was den Wert bilateraler Handelsabkommen angeht. Ein global gültiges Regelwerk ist bilateralen Abkommen, die leichter nachteilige Handelsverlagerungen erzeugen und das Handelssystem fragmentieren, sicherlich vorzuziehen. Wenn aber das globale System zusammenbricht und die Rechtssicherheit abnimmt, sind bilaterale Abkommen willkommene Hilfsmaßnahmen. Europa sollte daher zusätzliche vertiefte bilaterale Handelsabkommen abschließen, die mehr Staaten und Bereiche umfassen. Hier werden wiederum Kompromisse nötig sein. So wird der Mercosur-Freihandelsvertrag oder auch der mit den ASEAN-Staaten mit dem Risiko verbunden sein, Widersprüche auf dem Gebiet der Umweltpolitik zu erzeugen. Doch in einem zunehmend ungeordneten globalen Handelssystem würde der Schutz von Transparenz und Rechtsordnung auf jeden Fall eine sehr wichtige Errungenschaft sein.

Der Text ist Basis der Antrittsvorlesung von Gabriel Felbermayr am 22. Januar 2020 an der CAU in Kiel.

© Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte – Corinne Michaela Flick (Hg.) – CONVOCO! Edition – Wallstein Verlag 2020

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Referenzen

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Coverfoto: Dimitris Vetsikas auf Pixabay

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.