Wirtschaftspolitischer Beitrag

Die fünf apokalyptischen Reiter Lateinamerikas

Cover Kiel Focus Rioters in front of fire

Autor

  • Rolf J. Langhammer
Erscheinungsdatum

Analyse: Warum sich Lateinamerika nach Jahren des Aufschwungs wieder im Krisenmodus befindet.

Experte IfW Kiel

Lateinamerika befindet sich nach Jahren rohstoffgeprägten Aufschwungs wieder im „Blues“-Modus. Er reicht von politischen und ökonomischen Konfliktherden wie Venezuela über den finanzgestressten Altpatienten beim Internationalen Währungsfonds Argentinien bis hin zum Einkommensspitzenreiter Chile. Anders als bei der Krise Südostasiens 1997, als inkonsistente Währungsregime zum Herd des Problems avancierten, ist aber in Lateinamerika kein monetärer Ansteckungseffekt zu erkennen, der sich von einem Land rasch zu ähnlich gelagerten Nachbarländern verbreitet hätte. Vielmehr leiden alle Staaten unter fünf Problemfeldern, die man wegen ihrer Persistenz als die fünf apokalyptischen Reiter Lateinamerikas bezeichnen kann.

Arbeitsmarkt

Der erste Reiter trägt den Namen „segmentierte Arbeitsmärkte“. Lateinamerikanische Arbeitsmärkte sind auch als Folge langer Epochen von Feudalherrschaften und Importsubstitutionspolitiken geschlossen. Einem privilegierten Sektor von öffentlichen Unternehmen und Unternehmen im Verarbeitenden Sektor (oft im Besitz ausländischer Investoren) steht ein großer Sektor von Kleinunternehmern mit informell Beschäftigten gegenüber, die keinen Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt haben. Das treibt Einkommensungleichheiten und lässt Ungleichheitsmaße über das Maß hinaus ansteigen, das für rohstoffexportierende Länder typisch ist.

Kapitalmarkt

Der zweite Reiter trägt den Namen „volatile und offene Kapitalmärkte“. Es ist lateinamerikanischen Investoren im Krisenfall nie schwergefallen, den Dollar als Fluchtwährung zu nutzen und das Kapital ins Ausland zu transferieren. So wie Asien in der Vergangenheit durch relativ offene Arbeits- und relativ geschlossene Kapitalmärkte gekennzeichnet war, hat sich Lateinamerika durch relativ geschlossene Arbeits- und relativ offene Kapitalmärkte schnell in Krisensituationen  hineinmanövriert. Das Vertrauen in nationale Währungen wurde durch die historische Erfahrung mit inkonsistenten und damit nicht nachhaltigen Währungsregimen strapaziert und förderte die Dollarisierung.

Haushalt

Der dritte Reiter trägt den Namen „chronische Budgetdefizite“. Es ist lateinamerikanischen Ländern vielfach missglückt, Budgeteinnahmen und -ausgaben ins Gleichgewicht zu bringen. Die Finanzierungsdefizite sind immer höher gewesen als in anderen Entwicklungsregionen. Finanziert wurden die Defizite durch den Rückgriff auf die Inflationssteuer – jüngst wieder in Argentinien zu beobachten. Die Besteuerungsbasis ist eng, der Besteuerungswiderstand hoch und die Steueradministration schwach. Auf der Ausgabenseite sind viele Subventionstatbestände politisch festgezurrt und wecken erheblichen Widerstand bei der Bevölkerung, wenn sie auf Rat ausländischer Geber oder durch eigene Einsicht abgebaut werden sollen.

Rohstoffe

Der vierte Reiter trägt den Namen „Rohstoffprägung“. Es ist kein Fluch, Rohstoffe zu besitzen und zu nutzen, aber es ist einer, den Volatilitäten von Rohstoffpreisen keine eigene Anpassungskapazität entgegensetzen zu können. In der Phase des Rohstoffpreisbooms, der durch die geld- und fiskalpolitische Expansion der Industrieländer und Chinas bis nach der Krise 2008 verlängert wurde, geriet Lateinamerika in den Griff der „dutch disease“, der rohstoffgeprägten realen Aufwertung zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit der Nicht-Rohstoffsektoren. Da eine derartige reale Aufwertung ein vorübergehender Einkommensgewinn ist, muss er korrigiert werden, wenn der Preisboom einer Baisse weicht. Nominale Abwertungen bei flexiblen Wechselkursregimen und Lohnsenkungen bei festen Wechselkursregimen plus stärkere Budgetdisziplin sind die Anpassungsrezepte, die in Lateinamerika regelmäßig nicht zum Einsatz kommen, weil der politische Widerstand nicht überwunden werden kann.

Bildung

Der fünfte Reiter ist struktureller Art und trägt den Namen „Bildungsschwäche“. Lateinamerika ist es nicht geglückt, mit seinen menschlichen Fähigkeiten und Talenten der Bildungsoffensive Asiens nachzueifern und sein Weltmarktangebot sichtbar zu modernisieren. Sein Anteil an den Weltgüterexporten fiel zwischen 2008 und 2018 von 4 auf 3 Prozent. An vergleichenden Studien der OECD über Schülerleistungen nehmen nur wenige lateinamerikanische Länder teil, und diese liegen fast immer hinten.

Die gegenwärtigen Krisen in den Andenstaaten und in Argentinien sind in erster Linie den „Reitern“ drei und vier zuzuschreiben, aber sie haben ihren Ursprung auch in den drei anderen „Reitern“. Die Folgen werden im Vergleich zur Vergangenheit auch international gravierender: Migration gen Norden, unkontrollierte Ressourcenplünderung und populistische Regime. Die Gefahr, dass auch relativ stabile Länder wie Chile und Uruguay in den Abwärtssog geraten, war nie so groß wie heute. Umso wichtiger ist es, dass die Partnerländer Lateinamerikas im eigenen Interesse ihre Agrarmärkte sehr viel weiter dem lateinamerikanischen Angebot öffnen und auch bereit sind, für die Erhaltung der natürlichen Ressourcen ein Entgelt zu leisten und nicht nur für deren Ausbeutung.


Coverfoto: Photo by Cristian Castillo on Unsplash

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.

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Schlagworte

  • Lateinamerika
  • Rohstoffmärkte
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