Wirtschaftspolitischer Beitrag

Brexit: Die EU sollte sich nun bewegen

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Autoren

  • Ulrich Stolzenburg
  • Gabriel Felbermayr
Erscheinungsdatum

Der sogenannte Backstop, die Regelung für den Umgang mit der EU-Grenze zu Nordirland, ist die wesentliche Hürde für eine Brexit-Einigung zwischen Großbritannien und der EU. Die Union sollte nicht riskieren, dass dieser Streitpunkt einen No-Deal-Brexit verursacht, der für alle Seiten große Schäden brächte. Deshalb sollte Brüssel jetzt einen Kompromiss vorschlagen, der den Briten ein Kündigungsrecht für den Backstop einräumt. Damit würde die Klippe eines chaotischen „No-deal Brexit“ für lange Zeit und womöglich dauerhaft umschifft.

Das Vereinigte Königreich verlangt seit längerer Zeit eine Änderung der Backstop-Regelung, die EU hat das ausgehandelte Austrittsabkommen jedoch für unveränderbar erklärt. Würde die EU dem Vereinigten Königreich ein einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop mit einer Kündigungsfrist von zwei Jahren einräumen, könnte sie der Regierungsmehrheit im britischen Parlament eine Zustimmung zum Austrittsabkommen deutlich erleichtern. Dies hätte zahlreiche Vorteile: Das Vereinigte Königreich würde die EU formal zum 31. Oktober mit einem Abkommen und somit ohne wirtschaftliche Friktionen verlassen. Die vorgesehene Übergangsphase bis Ende 2020 könnte endlich beginnen und für Verhandlungen genutzt werden, und eine mögliche Zollgrenze in Irland wäre bis mindestens 2023 vom Tisch, statt als Nebenprodukt eines „No-deal-Brexits“ bereits in wenigen Wochen zu drohen. In der folgenden Übergangsphase sollte die EU auf das Vereinigte Königreich zugehen und Angebote auf Augenhöhe machen, um eine möglichst enge handelspolitische Anbindung an den Europäischen Binnenmarkt zu ermöglichen.

Der bevorstehende Showdown

Derzeit läuft alles auf einen Showdown zu. Der neue Premierminister Boris Johnson hat seine Regierungsmannschaft so zusammengestellt, dass Schlüsselpositionen nun mit Personen besetzt sind, die einen Austritt ohne Abkommen zweifellos mittragen würden. Ein weiterer Aufschub des Austrittstermins ist unter der neuen Regierung praktisch ausgeschlossen – Boris Johnson hat den Austritt zum 31. Oktober versprochen („do or die“) – hier gibt es keinen Interpretationsspielraum. Mit dieser Drohkulisse soll die EU dazu bewegt werden, das bisherige Austrittsabkommen neu zu verhandeln und insbesondere den sogenannten Backstop aus dem Vertragswerk zu streichen. Die EU hat diesbezüglich bislang keinerlei Verhandlungsbereitschaft signalisiert, so dass die Regierung Johnson auf einen Austritt ohne Abkommen zusteuert. Im Parlament fehlt zwar die Regierungsmehrheit für einen solchen Kurs, denn es gibt zahlreiche Tory-Abgeordnete, die einen „No-deal“ klar ablehnen, und die übrigen Fraktionen im Parlament sind ebenfalls dagegen. Doch die Regierung muss dies gar nicht gesetzgeberisch herbeiführen, sondern der „No-deal“ ist das Default-Ereignis: Das Vereinigte Königreich tritt am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU aus, wenn bis dahin nicht etwas anderes beschlossen wird. Wir treiben also auf den „No-deal-Brexit“ zu wie auf eine Klippe, und um ihn zu verhindern, muss aktiv umgesteuert werden.

So wird derzeit munter spekuliert, ob es der Johnson-Regierung gelingen kann, einen Austritt ohne Vertrag gegen den Willen des Parlaments einfach geschehen zu lassen, beispielsweise durch eine willkürlich beschlossene Parlamentspause oder einen verzögerten Neuwahltermin nach dem 31. Oktober mit der Folge, dass das Unterhaus keine Gelegenheit mehr bekommt, einen No-deal-Brexit abzuwenden. Gleichzeitig wird spekuliert, ob und wie das Unterhaus die Regierung vorher noch stoppen kann, beispielsweise durch ein Misstrauensvotum gegen Johnson und eine unmittelbar über Parteigrenzen hinweg gebildete Übergangsregierung, die dann bei der EU um eine weitere Verschiebung des Austrittstermins bittet.

Die EU könnte sich nun zurücklehnen und einfach abwarten, was passiert. Doch:

Möglichkeit 1: Das britische Parlament könnte die Regierung stürzen und den „No-deal-Brexit“ rechtzeitig verhindern. Gelöst wäre damit noch nichts, und die Brexit-Unsicherheit würde uns weiter begleiten. Was wären die Folgen? Eine vorgezogene Parlamentswahl mit ungewissem Ausgang schiene unvermeidlich. Droht dann ein Zerfall der Tory-Partei oder gar eine Machtübernahme durch Nigel Farage, was im britischen Wahlsystem („The winner takes it all“) nicht ausgeschlossen ist? Käme eine Labour-Regierung an die Macht, die womöglich ein zweites Referendum ansetzen würde, noch bevor das Ergebnis des Referendums von 2016 umgesetzt wurde? Viele Brexit-Wähler von 2016 würden sich wohl übergangen fühlen und dagegen aufbegehren. Die Brexit-Unsicherheit bliebe eine Belastung für die ohnehin schwächelnde Konjunktur in Europa.

Möglichkeit 2: Es kommt mit dem Amtsantritt von Ursula von der Leyen als Kommissionschefin am 1. November zu einem Austritt ohne Abkommen, welcher zu wirtschaftlichen Verwerfungen auf beiden Seiten führen würde. Verlierer wären kurzfristig insbesondere das Vereinigte Königreich und Irland, aber auch der Rest der EU, einschließlich Deutschlands. Nun würde die EU-Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland verlaufen. Da das Vereinigte Königreich erklärtermaßen nicht beabsichtigt, Grenzkontrollen einzurichten, läge die undankbare Aufgabe, die EU-Zollgrenze zu sichern, wohl bei der irischen Seite. Das Beharren auf dem Backstop, der eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland dauerhaft ausschließen soll, hätte letztlich die Zustimmung zum Austrittsabkommen verhindert und so dazu beigetragen, dass diese drohende Grenze bereits im November 2019 installiert werden müsste.

Die EU sollte das Brexit-Chaos auflösen

Das Problem mit der Backstop-Regelung aus Sicht seiner Gegner ist, dass sie nur einvernehmlich beendet werden kann. Die EU würde vermutlich auch zukünftig niemals zustimmen, dass Nordirland die Zollunion verlässt und damit eine EU-Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland entsteht. Somit wäre das Vereinigte Königreich entweder für alle Zeiten in der Zollunion „gefangen“ und bliebe handelspolitisch ein Anhängsel der EU ohne eigenes Stimmrecht; es könnte also niemals eigene Handelsabkommen schließen. Oder Großbritannien würde die Zollunion verlassen – dann würde die EU-Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien verlaufen, und man müsste eine allmähliche ökonomische Herauslösung Nordirlands aus dem Vereinigten Königreich hinnehmen. Ein einprägsames Bild für den Backstop ist die Vorstellung, das Vereinigte Königreich würde sich in einen Kerker begeben, und der Schlüssel zum Verlassen des Kerkers wäre in der Hosentasche von Michel Barnier, dem Verhandlungsführer der EU. Dies wäre offensichtlich eine sehr unkomfortable britische Verhandlungsposition – kein Wunder also, dass es hier Widerstand gibt.

Um das heraufziehende Brexit-Chaos zu vermeiden, müsste die EU ihre harte Haltung in Sachen Backstop aufgeben und das Austrittsabkommen nur geringfügig abändern. Mit einem einseitigen Kündigungsrecht für die Briten, beispielsweise mit einer zweijährigen Kündigungsfrist, würde das Vereinigte Königreich im Bild des Backstops als „Kerker“ einen Zweitschlüssel erhalten. Damit würde die EU dem austretenden Staat lediglich die Souveränität zugestehen, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das komplette eigene Staatsgebiet selbst festlegen zu können und nicht auf die Zustimmung der EU angewiesen zu sein. Diese kleine Änderung am Vertragswerk dürfte es der Regierungsmehrheit im britischen Unterhaus ermöglichen, dem Austrittsabkommen zuzustimmen. Zur Erinnerung: Das sogenannte „Brady-Amendment“ erreichte Ende Januar 2019 eine Mehrheit im Unterhaus – hierbei wurde der May-Deal akzeptiert, sofern der Backstop durch „alternative Arrangements“ zur Vermeidung einer harten Grenze in Irland ersetzt würde. Wenn die EU ihre Haltung ändern sollte, wäre der Weg zu einem Austrittsvertrag im Unterhaus wohl schnell geebnet. Das Vereinigte Königreich würde sich zur Zahlung der Austrittsrechnung verpflichten müssen (32,8 Mrd. Euro).

Mit einem unilateralen Kündigungsrecht für den Backstop mit zweijähriger Kündigungsfrist wäre eine unerwünschte Zollgrenze in Irland mindestens bis zum Jahr 2023 ausgeschlossen. Das Vereinigte Königreich verbliebe zunächst bis Ende des Jahres 2020 im Europäischen Binnenmarkt. Falls sich bis dahin keine Lösung für die Ausgestaltung der zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen mit der EU herausbilden sollte, blieben die Briten weiter in der Zollunion, und zwar bis eine einvernehmliche Lösung für ein neues Arrangement gefunden wird. Eine unilaterale Kündigung des Backstop mit der Folge eines späteren Verlassens der Zollunion – und damit die Wiederauflage der ungelösten irischen Grenzfrage – wären zwar immer noch möglich, aber es wäre dann nicht mehr eine Klippe, auf die das Vereinigte Königreich quasi unaufhaltsam als Default-Ereignis zusteuert. Stattdessen müsste das britische Unterhaus diese Option aktiv herbeiführen, und zumindest derzeit gibt es für einen Austritt ohne geordnete Nachfolgeregelung keine parlamentarische Mehrheit. Die EU müsste lediglich darauf vertrauen, dass auch in einigen Jahren mehrheitlich kein Interesse an einer harten Grenze in Irland besteht.

Eine kompromisslose Haltung der EU in dieser Frage ergibt augenscheinlich ohnehin keinen Sinn. Erstens ist es das Wesen von Verhandlungen, Kompromissbereitschaft zu zeigen. Wenn 27 EU-Länder den „May-Deal“ problemlos durchwinken, während die britische Regierung im mehreren Anläufen und unter hohem Druck keine parlamentarische Mehrheit dafür zustande bekommt, dann muss die EU-27 sich womöglich doch ein wenig bewegen, um einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss finden zu können. Zweitens ist der offizielle Zweck des Backstop, eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland dauerhaft auszuschließen. Wenn die Alternative zu dem ausgehandelten Abkommen jedoch ein ungeregelter Austritt ist, würde die harte Grenze in Irland, die unbedingt vermieden werden soll, schließlich doch kommen, und zwar unmittelbar. Wird die EU ernsthaft von Irland erwarten, ab dem 1.11. Grenzbefestigungen an der nordirischen Grenzlinie zu installieren, nachdem man den Backstop vorher für unverzichtbar erklärt hat? Auch aus irischer Perspektive erscheint es da sinnvoller, das Austrittsabkommen etwas aufzuweichen und die Gefahr einer harten Grenze in Irland erst einmal weit in die Zukunft zu verschieben.

Die irische Grenzfrage wäre zwar nicht zwingend für alle Zeiten gelöst, aber es wäre viel Zeit gewonnen, etwa für eine überparteiliche Lösung, für die Entwicklung einer technischen Lösung zur Vermeidung von Grenzbefestigungen in Irland (siehe z.B. https://www.larskarlsson.com/?p=5298) oder aber für eine neue politische Dynamik im Verlauf der kommenden Jahre. Sobald das Ergebnis des Referendums von 2016 formal umgesetzt wäre, hätte ein weiteres Referendum womöglich mehr demokratische Legitimität als derzeit – dieses könnte als Entscheidungshilfe über die gewünschten zukünftigen Beziehungen zur EU eingesetzt werden. Denkbar wären auch neue, komfortablere Regierungsmehrheiten, mit denen eine Verhandlungslösung über die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen leichter umzusetzen ist.

Eine kooperative Haltung für die Übergangsphase

Gerechtfertigt ist eine kompromissbereite Haltung der EU auch, weil sie sich inzwischen eingestehen muss, dass der Brexit-Prozess von Anfang an fehlerhaft aufgesetzt war. Dass die EU zweistufig verhandeln wollte – erst die Bedingungen für einen Austritt, dann ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen –, ist spieltheoretisch sehr fragwürdig. Beide Themen hängen stark zusammen. Warum sollten die Briten eine Austrittsgebühr von mehr als 30 Mrd. € bezahlen, ohne ein Abkommen zu haben? Die ganze Backstop-Problematik krankt auch daran, dass die langfristige Zukunft der Beziehungen über den Ärmelkanal weiterhin maximal unklar ist.

Die erstbeste Lösung wäre es, den zweistufig gedachten Prozess in einen einstufigen umzubauen und den Austritt gemeinsam mit einem zukünftigen Freihandelsabkommen zu verhandeln. Dies ist in der Kürze der Zeit bis zum Austrittstermin am 31.10. jedoch kaum mehr möglich. Vor diesem Hintergrund erscheint es am sinnvollsten, nun Zeit zu gewinnen und einen für alle unerwünschten Ausgang abzuwenden. Mit ein wenig Kompromissbereitschaft kann die EU den Brexit-Prozess neu aufs Gleis setzen und endlich in die Übergangsphase kommen, in der die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen ausgehandelt werden. Sofern die EU dem austretenden Staat gegenüber dann ein einigermaßen kooperatives Verhalten zeigt, wird das Vereinigte Königreich mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals einseitig den Backstop aufkündigen.

Welche Angebote könnte die EU den Briten in der Übergangsphase machen?

  • Die EU sollte einen Zollverein vorschlagen, der den Briten Mitsprachrechte gibt, sie also nicht in den vermeintlichen „Kerker“ sperrt. Das Austrittsabkommen würde in ein langfristiges Handelsabkommen eingebunden werden, das auf eine erweiterte Zollunion mit Stimmrechten für das Vereinigte Königreich hinausläuft. Dafür muss die EU endlich strategisch vorgehen, das heißt, vom Dogma der Untrennbarkeit der vier Freiheiten abrücken und dem Vereinigten Königreich und in gleicher Weise auch der Schweiz, die maximale wirtschaftliche Integration anbieten, die ohne politische Union machbar ist.
  • Eine weitere Möglichkeit wäre eine Vereinbarung, wie sie mit Kanada oder der Ukraine besteht. Die würde eine weniger enge Anbindung an die EU bedeuten, aber sicher besser sein als ein „No-deal“. Hierbei müsste die Frage einer inneririschen Zollgrenze freilich immer noch – womöglich durch Technologie – gelöst werden.

Das Vereinigte Königreich kann während der Übergangsphase immer noch aus verschiedenen Optionen wählen, unabhängig davon, was in der politischen Erklärung steht, die das Austrittsabkommen begleitet. Zur Wahl der zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen zur EU wird es natürlich unumgänglich sein, im Unterhaus eine Mehrheit für eine bevorzugte Variante zu erzielen. Notfalls könnte diese Meinungsfindung durch ein weiteres Referendum unterstützt werden („Peoples Vote“).

Fazit

Die „Versicherung“ bzw. Auffanglösung, wonach das Vereinigte Königreich nach der Übergangsphase zunächst in der Zollunion bliebe, sofern es bis dahin keine Einigung auf ein zukünftiges Handelsregime gibt, würde bei der hier vorgeschlagenen Lösung erhalten bleiben. Das einseitige Kündigungsrecht für den Backstop würde der britischen Seite allerdings ebenfalls eine Rückversicherung einräumen für den Fall, dass die EU-Seite sich in der Übergangsphase unkooperativ verhält und nicht ernsthaft nach alternativen Möglichkeiten zur Vermeidung einer harten Grenze in Irland suchen sollte. Notfalls könnte der Backstop dann – mit zwei Jahren Verzögerung – gekündigt werden. Sofern beide Seiten in gutem Willen verhandeln, wird dies wohl nie geschehen.

Die EU kann der britischen Regierung durch ein wenig Kompromissbereitschaft in der strittigen Frage des Backstops entgegenkommen, damit eine Brücke für einen geregelten Austritt bauen. Damit würde die Klippe eines chaotischen „No-deal-Brexit“ für lange Zeit und womöglich dauerhaft umschifft. In der folgenden Übergangsphase sollte die EU auf das Vereinigte Königreich zugehen und Angebote auf Augenhöhe machen, um eine möglichst enge handelspolitische Anbindung an den Europäischen Binnenmarkt zu ermöglichen.


Coverfoto: © Dave Kellam (flickr) CC By-SA 2.0

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.

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