Die falschen Argumente der Deflations-Warner

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  • Joachim Scheide
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Im Euroraum gibt es keine Deflation. Die Inflationsrate ist in den vergangenen Monaten weiter zurückgegangen und liegt bei 1 Prozent, also unter dem Wert von knapp 2 Prozent, den die Europäische Zentralbank als Preisstabilität definiert. Diese Entwicklung ist alles andere als dramatisch oder schädlich.

Im Euroraum gibt es keine Deflation. Die Inflationsrate ist in den vergangenen Monaten weiter zurückgegangen und liegt bei 1 Prozent, also unter dem Wert von knapp 2 Prozent, den die Europäische Zentralbank als Preisstabilität definiert. Diese Entwicklung ist alles andere als dramatisch oder schädlich. Vor allem ist es äußerst unwahrscheinlich, dass eine Situation eintritt, in der deflatorische Tendenzen zunehmend die Oberhand gewinnen und die europäische Wirtschaft deshalb in eine tiefe Rezession rutscht.

Ein Grund für die aktuell niedrige Inflation ist der Rückgang der Energiepreise. Dieser Effekt wirkt positiv auf die Konjunktur, denn für die Unternehmen bedeutet er eine Kostenentlastung, und für die privaten Haushalte bringt er einen Kaufkraftgewinn. Erinnern wir uns: Vor gut zwei Jahren lag die Inflationsrate im Euroraum über der Marke von 2 Prozent, auch weil die Energiepreise kräftig zulegten. Hätte man diese Entwicklung begrüßen sollen? Wohl kaum. Übrigens waren in jener Zeit keine Forderungen zu hören, die EZB solle ihre Politik straffen. Verstärkt wurde der Preisauftrieb damals durch Anhebungen von indirekten Steuern in einigen Krisenländern, was die Konjunktur ebenfalls dämpfte. Diese Effekte laufen nun aus, und durch den sog. Basiseffekt wird die Inflationsrate gedrückt.

Dennoch: Berücksichtigt man all diese Sondereinflüsse, ist die Inflationsrate mit 1 Prozent niedriger, als es dem Ziel des EZB entspricht. Auch dies ist keine ungewöhnliche Situation, denn es ist zu bedenken, dass die Produktionskapazitäten im Euroraum immer noch unterdurchschnittlich ausgelastet sind. Folgt man der These, dass sich die Kerninflation in der Tendenz mit dem Auslastungsgrad in der Gesamtwirtschaft bewegt, ist es nahezu zwangsläufig, dass die Inflation unter dem Ziel der EZB liegt; in Ländern, in denen die Konjunktur besonders schlecht läuft, ist die Inflation sogar besonders niedrig. Im langjährigen Durchschnitt wird das Inflationsziel dennoch erreicht, wenn der Preisanstieg in der Hochkonjunktur – von der wir, zugegeben, noch weit entfernt sind – über 2 Prozent liegt. Folgt man den vorliegenden Prognosen, auch denen der EZB, wird sich die Konjunktur im Euroraum erholen und die Inflation wird allmählich wieder anziehen.

Unabhängig davon wird das Szenario einer Deflation vielfach dramatisiert, als sei die Deflation der größte Unfall für eine Volkswirtschaft, der auf jeden Fall verhindert werden müsse. Immer wieder ist das Argument zu hören, dass in einer Deflation in großem Stil Käufe aufgeschoben würden, weil Konsumenten die Güter später billiger erwerben könnten; in der Folge sinke die Produktion, und die Rezession verschärfe sich unaufhaltsam. Diese Aussage ist geradezu absurd. Träfe sie zu, hätte der Absatz von Computern und Smartphones in den vergangenen Jahren sinken müssen. Auch umgekehrt gilt das Argument nicht: Es ist eben nicht so, dass bei einer Inflation – wenn sie konstant bei 2 Prozent liegt – Käufe in großem Umfang vorgezogen werden, weil die Konsumenten künftig höhere Preise erwarten. Für eine so ausgelöste „Aufwärtsspirale“ – die Produktion müsste dann beschleunigt steigen – gibt es keine Belege.

Immer wieder wird das Beispiel der japanischen Wirtschaft herangezogen, um die vermeintlich negativen Wirkungen zu belegen. Tatsächlich ist das Preisniveau in Japan in den vergangenen zwei Jahrzehnten leicht gesunken. Dies war aber nicht die Ursache für die schwache Zunahme der Produktion, vielmehr war die Deflation ein Symptom für fundamentale Probleme. Vor allem die unbewältigte Krise im Bankensektor war für das mäßige Wachstum der Wirtschaft verantwortlich. Ferner konnte die japanische Notenbank nicht vermitteln, dass sie ein Inflationsziel hatte, an dem sich die Erwartungen hätten orientieren können. Im Euroraum ist das anders: Die EZB hat ein Ziel, und die Inflationserwartungen liegen fast punktgenau dort. Auch das spricht gegen eine drohende Deflation.

Einen großen Einfluss auf die Konjunktur hatte die Deflation tatsächlich während der Großen Depression in den 1930er Jahren. Damals sank das Preisniveau – in Deutschland ebenso wie in den USA – um rund ein Drittel. Die Ursache hierfür war nach inzwischen gängiger Auffassung, dass die Notenbanken damals nichts gegen den Run auf die Geschäftsbanken unternommen hatten. In der Folge brach das Kreditgeschäft zusammen, und die Geldmenge sank drastisch; Deflation und ein massiver Einbruch der Produktion waren die Folge. In der jüngsten Finanzkrise haben die Notenbanken hingegen richtig gehandelt, und sie würden mit Sicherheit erneut Liquidität bereitstellen, sollte sich die Lage im Bankensektor dramatisch zuspitzen.

Die Krise, die wir im Euroraum immer noch haben, hat nichts mit zu hohen Zinsen oder zu geringer Liquidität zu tun. Die Notenbanken sollten nicht die Fehler wiederholen, die sie vor der Krise gemacht haben. Aus Angst vor einer Deflation tat man das Gegenteil: Mit ihrer allzu expansiven Politik trugen die Notenbanken zu einem inflationären Boom bei.

(Leicht überarbeitete Version eines Artikels auf Capital Online vom 15. April 2014 unter dem Titel „Falsche Argumente für die Deflation“.)