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Wie werden Migrationsentscheidungen getroffen? Triebkräfte in den Herkunftsländern

Um besser verstehen zu können, was Migration antreibt, sind direkte Haushaltsbefragungen in Herkunftsländern ein nützliches Instrument. Die Ergebnisse können dazu beitragen, das Zusammenspiel zwischen den individuellen Haushalts-, Herkunftsland- und Ziellandmerkmalen aufzuschlüsseln. Allerdings hat die Covid-19-Pandemie solche Forschungsbemühungen weltweit unterbrochen. Erst nach der Aufhebung der meisten Reisebeschränkungen konnte unser MEDAM-Forschungsteam wieder vor Ort in Uganda und im Senegal direkte Haushaltsbefragungen zu Migrationswünschen und Einstellungen gegenüber Einwanderern durchführen, mit neuen Covid-19 kompatiblen Erhebungsmethoden.

Auswandern oder nicht auswandern – diese Frage stellt sich für viele junge Menschen in Afrika südlich der Sahara. Wenn Eddy, Universitätsstudent aus Mbale, Uganda, die Möglichkeit hätte, würde er ohne zu zögern in die USA gehen: „Hier in Uganda ist es schwierig, einen Job zu finden, selbst wenn man einen Masterabschluss hat.“ Und die Risiken, die oft mit der Migration durch die Hintertür verbunden sind? „Ich bin ein Glückspilz, mir würde es gutgehen.“ Seine Kommilitonin Rose ist da anderer Meinung. Sie glaubt, dass die Wirtschaft wächst und will sich in Uganda eine Zukunft aufbauen.

Migrationsbestrebungen besser verstehen

In den kommenden Jahrzehnten werden das Bevölkerungswachstum und der demografische Wandel sowie die Umweltzerstörung in vielen armen Ländern, insbesondere in Afrika, dazu führen, dass mehr Menschen eine Auswanderung nach Europa in Erwägung ziehen. In der Studie über Migrationswünsche und Einstellungen gegenüber Eingewanderten in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, die im Rahmen des Mercator Dialogue on Asylum and Migration (MEDAM) durchgeführt wurde, dreht sich alles um Migration.

Wie entscheiden Menschen, ob sie migrieren oder nicht? Welche Faktoren sind für ihre Entscheidung besonders wichtig – die wirtschaftliche Situation im Heimatland, die Möglichkeiten im Zielland oder die Bedingungen der Reise? Welche Rolle spielen das Geschlecht und der Klimawandel bei den Migrationsbestrebungen? Und was denken die Menschen über Eingewanderte, die in die afrikanischen Länder südlich der Sahara kommen?

Um diese und weitere Fragen zu beantworten, hat unser MEDAM-Forschungsteam neue Daten in Uganda und im Senegal erhoben – zwei Länder, die mit allen in Afrika vorkommenden Migrationsarten befasst sind (reguläre vs. irreguläre Migration, Arbeitsmigration vs. Fluchtmigration, Einwanderung aus der Region vs. Auswanderung in Länder außerhalb Afrikas). Gemeinsam mit unseren lokalen Partnern, dem Policy Analysis and Development Research Institute (PADRI) und dem Centre de Recherche pour le Développement Économique et Social (CRDES), haben wir rund 2.700 junge Menschen zu ihren Migrationswünschen und -hintergründen, politischen Vorstellungen, Geschlechterrollen, dem Klimawandel und ihrer Einstellung gegenüber Eingewanderten befragt. Die wichtigsten Erkenntnisse erhoffen wir uns von zwei innovativen Conjoint-Analysen. Bei dieser Art von Auswahlexperiment müssen die Befragten zwei Optionen vergleichen, die sich in Bezug auf mehrere Dimensionen voneinander unterscheiden, und sich für die Option entscheiden, die sie bevorzugen.

Optionen im Experiment: Auswanderungsszenarien und Einwandererprofile zur Auswahl

Bei der Conjoint-Analyse zu Migrationswünschen wurden die Befragten gebeten, zwischen hypothetischen Migrationsszenarien zu wählen, die jeweils aus drei Dimensionen bestehen: dem (hypothetischen) Status quo im Herkunftsland, der erwarteten Situation im Zielland und den Umständen der Reise. Die Befragten verglichen die Szenarien miteinander und wählten dasjenige aus, bei dem sie am ehesten bereit wären, auszuwandern.

In der zweiten Conjoint-Analyse zu Einstellungen gegenüber Eingewanderten wählten die Befragten zwischen verschiedenen Personenprofilen, die sich in Bezug auf die Herkunft, den Beruf, die Bereitschaft zur Integration und den Standort im Zielland unterscheiden, diejenige (fiktive) Person aus, die sie persönlich am liebsten in ihrem Heimatland willkommen heißen würden.

Die zufällige Variation der spezifischen Merkmale der verschiedenen Szenarien/Profile ermöglicht es den Forscherinnen und Forschern zu beobachten, wie Migrationswünsche und Einstellungen gegenüber Eingewanderten beeinflusst werden, wenn sich bestimmte Merkmale ändern. Wie wichtig ist der rechtliche Status im Zielland für die Entscheidung zu migrieren? Wie wirkt sich das Risiko während der Reise auf die Migrationsbestrebungen aus? Bevorzugen die Menschen in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara Zugewanderte, die ebenso aus Afrika kommen, oder chinesische Zuwanderer? Oder legen sie mehr Wert auf den wirtschaftlichen Beitrag, den einwandernde Personen leisten können?

Fortsetzung der Forschung unter Covid-19-Bedingungen

Eine grundsätzliche Herausforderung bei den Befragungen bestand darin, dass einige der Teilnehmenden nicht lesen konnten. Zusätzlich erschwert wurde die Durchführung der Experimente durch den in Pandemie-Zeiten vorgegebenen Sicherheitsabstand: Ein gemeinsames Arbeiten von Befragten und Interviewern an einem Tablet war nicht möglich. Gemeinsam mit unseren Partnern vor Ort hat das Forschungsteam intuitiv verständliche Visualisierungen für die verschiedenen Dimensionen der Conjoint-Analyse erarbeitet, die dann auf Magnete gedruckt wurden. Diese Magnete konnten auf Whiteboards gesteckt und den Probandinnen und Probanden ausgehändigt werden, um ihnen die verschiedenen Szenarien/Profile zu zeigen, ohne dass die Hygienestandards verletzt wurden und gleichzeitig die Komplexität reduziert wurde.

Die Datenerhebung in Uganda ist bereits abgeschlossen, mit sehr positiven Ergebnissen in verschiedener Hinsicht: Erstens genossen die Befragten die interaktive und sogar spielerische Art – mit Magneten und Whiteboards –, auf die Fragen des Interviewteams zu antworten. Zweitens sind die gesammelten Daten trotz der Komplexität der Aufgabe und eines beträchtlichen Anteils von Befragten mit geringer Bildung von hoher Qualität. Die Auswertung der einheitlichen Muster, die sich in den Antworten schon andeuten, dauert noch an, und wir rechnen damit, die Forschungsergebnisse im Rahmen des MEDAM-Projekts im Laufe des Jahres 2022 zu veröffentlichen. Nicht zuletzt war die Befragung mithilfe der neuen Technik auch für das Interviewteam eine interessante Erfahrung, die ihnen bei ihrer künftigen Arbeit von Nutzen sein wird.

Aufbauend auf und ergänzend zu den bestehenden MEDAM-Forschungsergebnissen zu Einstellungen und politischen Präferenzen in Europa und in den Herkunfts-, Erstaufnahme- und Transitländern werden diese neuen Erkenntnisse dazu beitragen, die Entscheidungsfindung von Migrantinnen und Migranten sowie die Rolle und Interdependenz der verschiedenen Push-Faktoren besser zu verstehen. Letztendlich zielt unsere Forschung darauf ab, europäische Entscheidungsträgerinnen und -träger zu informieren, um eine effektivere, kooperative Politikgestaltung im Bereich der Migration zwischen europäischen und afrikanischen Ländern zu entwickeln.


Die Stiftung Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung. Sie strebt mit ihrer Arbeit eine Gesellschaft an, die sich durch Weltoff enheit, Solidarität und Chancengleichheit auszeichnet. Dabei konzentriert sie sich darauf, Europa zu stärken, den Bildungserfolg benachteiligter Kinder und Jugendlicher insbesondere mit Migrationshintergrund zu erhöhen, Qualität und Wirkung kultureller Bildung zu verbessern, Klima schutz voranzutreiben und Wissenschaft zu fördern. Die Stiftung Mercator steht für die Verbindung von wissenschaftlicher Expertise und praktischer Projekterfahrung. Als eine führende Stiftung in Deutschland ist sie national wie international tätig. Dem Ruhrgebiet, der Heimat der Stifterfamilie und dem Sitz der Stiftung, fühlt sie sich besonders verpflichtet.

Zugehörige Publikation

  • Arbeitspapier

    Country, Culture or Competition - What Drives Attitudes Towards Immigrants in Sub-Saharan Africa? Kieler Arbeitspapiere
    06/2022 Download

    Sub-Saharan Africa is becoming an increasingly important destination for international migration. The region hosts immigrants from other African countries and from other parts of the world, such as China. Given high poverty levels and weak social security systems in Sub-Saharan Africa, host populations might fear increasing competition for resources and labor, potentially resulting in negative attitudes towards immigrants.
    We provide the first systematic study of attitudes towards immigrants in Sub-Saharan African countries that uses a causal framework. Using a survey experiment in Uganda and Senegal, we study both attitudes towards immigrants in general and towards specific immigrant groups. In particular, we focus on Chinese immigrants, whose increasing presence in Africa is seen by many as the most important contemporary geopolitical shift involving the continent.
    We find that attitudes towards immigrants are mainly driven by sociotropic cultural and sociotropic economic concerns. Furthermore, immigrants from China are perceived less positively and economically more threatening than immigrants in general.