Lieferengpässe

Statt aus der Krise heraus, führte der Weg immer weiter hinein

Frühjahr 2021, ein Schiffsunglück im Suezkanal. Es führt der globalisierten Welt ihre Verwundbarkeit und Abhängigkeit von einem reibungslosen Warenaustausch vor Augen. Hoffnungen auf eine zügige Rückkehr zur Normalität verflüchtigten sich schnell. Der Unfall der Ever Given markierte nur den Anfang einer Verkettung von Umständen, die Angebot und Nachfrage auf den Weltmärkten aus dem Gleichgewicht brachten. Das IfW Kiel analysierte die Verzögerungen in der Containerschifffahrt in Echtzeit und berechnete die Kosten der Lieferengpässe für Industrie und Verbraucher. 

Am Anfang überwog Sensationslust und Faszination. Wie dieses riesige Schiff durch einen leichten Dreher den kompletten Suezkanal von einer zur anderen Seite blockierte, wie ein für sich genommen durchaus mächtiger Bagger am Bug des Schiffes aussah wie ein miniaturisiertes Spielzeug – Bilder, die um die Welt gingen und großes Staunen hervorriefen. Es dauerte jedoch nur kurz, bis die wirtschaftliche Dramatik des Unfalls ins Bewusstsein rückte. Eine, vielleicht die wichtigste, Pulsader im globalen Warenverkehr blockiert? Wie lange? Was sind die Folgen?

Das IfW Kiel lieferte bereits gut einen Tag nach dem Unglück Fakten. 98 Prozent aller Frachtschiffe, die zwischen der EU und China unterwegs sind, fahren durch den Suezkanal. Das bedeutet: Etwa acht bis neun Prozent der deutschen Warenimporte und -exporte waren blockiert. Vor allem Elektronik, Maschinen (-teile) und Textilien.

Möglich war die schnelle Reaktion und die präzise Auskunft durch die Auswertung von Schiffspositionsdaten in Echtzeit, die Handelsforscher Vincent Stamer mit dem Kiel Trade Indicator betreibt. Er erfasst dabei die anlegenden und ablegenden Containerschiffe für 500 Häfen weltweit. Zusätzlich analysiert er Schiffsbewegungen in 100 Seeregionen und misst die effektive Auslastung der Containerschiffe anhand des Tiefgangs.

Analyse von Schiffspositionsdaten in Echtzeit

Mit Hilfe dieser Big-Data-Analyse schätzt Stamer die zu erwartenden Importe und Exporte für 75 Länder und Regionen, mittels Länder-Hafen-Korrelationen auch für Länder ohne eigenen Tiefseehafen. Der Algorithmus des Kiel Trade Indicator lernt mit zunehmender Datenverfügbarkeit dazu („machine learning“), so dass sich die Prognosegüte im Laufe der Zeit weiter erhöht.
„Mit dem Kiel Trade Indicator liefert das IfW Kiel einen konjunkturellen Frühindikator von bislang nicht gekannter Qualität und Quantität“, sagte der damalige IfW-Präsident Gabriel Felbermayr bei der Präsentation des Tools. „Hochfrequente Daten bieten für uns die große Chance, wirtschaftliche Ausschläge mit sehr geringem Zeitversatz ablesen oder prognostizieren zu können. Wirtschaft und Politik können so beispielsweise sehr viel früher auf sich abzeichnende Verwerfungen reagieren und gegensteuern.“

Im konkreten Fall veröffentlichte das Statistische Bundesamt erst Anfang Juni die Handelszahlen Deutschlands für den April, in denen mögliche Folgen des Ever-Given-Unglücks Ende März abzulesen gewesen wären. Der Kiel Trade Indicator errechnete bereits im April (und final Anfang Mai, also über einen Monat vor Bekanntgabe der offiziellen Zahlen), dass der jüngste Aufwärtstrend im deutschen Handel im April zu Ende war und Im- und Exporte nur noch stagnierten bzw. leicht zurückgingen.

Die folgenden Monate brachten wenig Besserung – im Gegenteil. Der Unfall der Ever Given markierte lediglich den Anfang einer Verkettung von Umständen, die Angebot und Nachfrage auf den Weltmärkten aus dem Gleichgewicht brachten. Zweite und dritte Corona-Welle, Schließung von Produktionsstätten, einzelner Terminals oder gleich ganzer Häfen in China, dazu eine aufgeheizte Nachfrage nach allem, was es in den eigenen vier Wänden gemütlich macht. In der Folge geriet das eng getaktete Netzwerk der Containerschifffahrt immer mehr außer Tritt.

Mit dem Kiel Trade Indicator liefert das IfW Kiel einen konjunkturellen Frühindikator von bislang nicht gekannter Qualität und Quantität 

Korrelation zwischen Auftragseingängen und Produktion offenbart Schaden

Die Lieferengpässe sind auch ein wesentlicher Grund dafür, dass sich der Aufholprozess der deutschen Wirtschaft ein ums andere Mal nach hinten verschiebt und die Teuerungsraten über alle Vorhersagen hinausschießen. Bereits im Sommer bilanzierte Konjunkturchef und amtierender Vizepräsident des IfW Kiel, Stefan Kooths: „Der deutsche Konjunkturkessel steht unter Dampf. Eine durch aufgestaute Kaufkraft und staatliche Konjunkturprogramme zusätzlich angefachte Nachfrage trifft auf ein auch durch Lieferengpässe limitiertes Angebot. Alles in allem stehen die Zeichen auf kräftiger Expansion. Dies treibt aber dort die Preise, wo Produktionskapazitäten noch nicht mit der anziehenden Nachfrage Schritt halten können.“

Die Folgen der Lieferengpässe für die deutsche Industrie sind immens. Immer weiter wächst der Berg unerledigter Aufträge, immer dringender fehlen ihr Vorprodukte. In einer Projektion vom Juni kommt Konjunkturforscher Klaus-Jürgen Gern zu dem Schluss, dass fehlende Zulieferungen die deutsche Wirtschaft auf Jahressicht rund 25 Mrd. Euro kosten dürften. Grundlage für die Berechnung sind Daten zur historischen Beziehung zwischen dem Niveau von Auftragseingängen und Produktion der Industrie in Deutschland seit der Wiedervereinigung; die Schätzmethodik wird in der Sommerprognose des IfW Kiel vorgestellt.
„Bereits im April lag die Industrieproduktion fast elf Prozent unter dem Niveau, das die Auftragseingänge eigentlich hätten erwarten lassen. Derzeit könnte sie mindestens fünf Prozent höher sein, wenn ausreichend Produktionsmaterialien und Zwischenprodukte zur Verfügung stünden“, sagte Klaus-Jürgen Gern.

Die zarten Zeichen der Entspannung aus dem Sommer bewahrheiteten sich nicht. Im August zeigte der Kiel Trade Indicator an, dass auf dem Roten Meer, der wichtigsten Handelsroute zwischen Asien und Europa, 20 Prozent weniger Waren transportiert wurden, als es unter normalen Umständen zu erwarten gewesen wäre. Zwischenzeitlich steckten fast 14 Prozent aller weltweit verschifften Waren in Staus fest, fast jedes siebte Produkt. Im Oktober waren rund zehn Prozent der weltweiten Frachtkapazitäten in Staus gebunden und konnten nicht be- oder entladen werden.

Im Spätsommer warnte Vincent Stamer: „Der Seehandel kommt nicht zur Ruhe, die Terminalschließung in Ningbo verschärft die Engpässe im Containerverkehr wieder. Findet der Warenhandel mit China nicht schnell zurück zu normalen Abläufen, droht sich die Krise auch im Weihnachtsgeschäft mit fehlenden Produkten und höheren Preisen bemerkbar zu machen.“ Tatsächlich blieb am Ende so mancher Wunsch ans Christkind, etwa nach einer Spielekonsole, unerfüllt oder konnte nur mit deutlichen Preisaufschlägen realisiert werden. (mehr Informationen im Kiel Trade Indicator Update 09/2021)

Deutschland von Lieferengpässen stärker betroffen als andere Länder

Die deutsche Industrie agierte das gesamte Jahr 2021 mit angezogener Handbremse, weil ihr die Vorprodukte aus Fernost fehlten. „Die Lieferengpässe kosten die Industrie in diesem Jahr schätzungsweise 40 Milliarden Euro Wertschöpfung“, sagte Konjunkturforscher Nils Jannsen bei der Vorstellung der Herbstprognose des IfW Kiel im Oktober. Die Berechnung hat bis heute Bestand. Rückblickend konstatiert er: „Die Lieferproblematik ist eine wesentliche Ursache dafür, warum die Wirtschaftsleistung in Deutschland zuletzt noch hinter ihrem Vorkrisenniveau zurückhing, während sie in vielen anderen Ländern ihr Vorkrisenniveau bereits überschritten hat. Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Lieferengpässe sind schon alleine deshalb in Deutschland besonders gravierend, weil der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Wertschöpfung mit rund 20 Prozent deutlich höher ist als in vielen anderen Ländern. Zum Vergleich: In Frankreich liegt der Anteil bei rund zehn Prozent."

Lieferstörungen wie 2021 hat die Weltwirtschaft bisher noch nicht erlebt. Fehlende Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungswerte machten die Einschätzung der Lage und die Frage nach den Folgen so immens schwierig. Das IfW Kiel lieferte mit dem Kiel Trade Indicator sowie mit seinen fundierten methodischen Schätzverfahren frühzeitig wertvolle Prognosen, um die Situation richtig einschätzen zu können.

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