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Warum eine neue Außenwirtschaftsstrategie notwendig ist

Politisch verschieben sich in der Weltordnung seit Jahren Gewichte, und Spannungen bauen sich auf. Damit ändert sich auch das geoökonomische Lagebild. Deutschland und die EU müssen sich darauf einstellen, wie Expertinnen und Experten des IfW Kiel 2021 in diversen Beiträgen hervorhoben. Eine neue Strategie für die Außenwirtschaftspolitik ist überfällig. 

Die bisherige Leitlinie deutscher Regierungen, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ziele möglichst getrennt zu adressieren, ist angesichts der veränderten Lage nicht mehr haltbar. Ein im November vorgestelltes Gutachten für das Auswärtige Amt hebt hervor, Priorität in einer neuen Strategie sollten unter anderem der Auf- und Ausbau bilateraler strategischer Partnerschaften haben, darunter ein Investitions- und Handelsabkommen mit den USA.

„Mit der Globalisierung nahm die Vernetzung zu, aber damit wuchsen auch die Abhängigkeiten. Gleichzeitig kam es mit dem Aufstieg Chinas zu einer internationalen machtpolitischen Verschiebung. … Deutschland und die EU [müssen] die eigene Verwundbarkeit bewerten und offensive und defensive Strategien für ihre Außenwirtschaftsbeziehungen entwickeln“, sagt Katrin Kamin, federführende Autorin der Studie und Forscherin am IfW Kiel.

Die Offenheit der Volkswirtschaft sei eine zentrale Basis des Wohlstands in Deutschland, dies mache das Land aber auch angreifbar, stellt die Studie fest. Deshalb müsse die Bundesregierung besonders aktiv sein, um die eigenen internationalen ökonomischen und politischen Beziehungen sowie jene der EU zu gestalten. Eine Entkoppelung oder den Abbau von internationalen Wirtschaftsbeziehungen gelte es dabei zu verhindern.

Deutschland und die EU müssen die eigene Verwundbarkeit bewerten und offensive und defensive Strategien für ihre Außenwirtschaftsbeziehungen entwickeln.

Defensive Instrumente schärfen, EU-Binnenmarkt stärken

Neben weiterhin wichtigen internationalen Abkommen, etwa im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO, müssten zusätzlich schärfere defensive Instrumente der EU treten, um eigene Interessen zu verteidigen oder durchzusetzen. Dazu gehörten etwa das Überwachen und, sofern nötig, das Ausbremsen ausländischer Investitionen in Deutschland und der EU sowie weitere Sanktionsinstrumente. Schon das Vorhandensein solcher Instrumente könne disziplinierend wirken, ohne dass sie zum Einsatz kommen müssten.

Daneben empfiehlt die Studie, eine Reihe offensiver Instrumente, die vor allem auf den Zugang zum EU-Binnenmarkt als Hebel für eine strategische Außenwirtschaftspolitik setzen. Unter anderem sind das:

  • der Ausbau und die Vertiefung des Binnenmarkts – vor allem im Bereich der Dienstleistungen, das Vorantreiben einer Banken- und Kapitalmarktunion, die Stärkung des Euro als internationaler Leitwährung
  • die Stärkung des von einem erfolgreichen Binnenmarkt abhängigen „Brüssel-Effekts“, durch den die EU internationale Standards setzen kann
  • der Erhalt und Ausbau strategischer Partnerschaften mit wichtigen Handelspartnern, allen voran ein Investitions- und Handelsabkommen mit den USA und ein Abkommen mit Indien
  • der Aufbau eines Grenzausgleichsmechanismus für CO2-Abgaben – idealerweise kombiniert mit der Bildung eines offenen Klimaclubs von Ländern mit gemeinsamen Klimaschutzstandards.

„Je größer, tiefer und dynamischer der EU-Binnenmarkt beschaffen ist, umso besser die Chancen, dass die EU und ihre Mitglieder die globale ökonomische und politische Ordnung nach ihren Interessen mitgestalten können“, so Kamin.

Herausforderung der deutschen Chinapolitik liegt in der Umsetzung

In der für Deutschland und die EU zentralen Frage der Haltung gegenüber China zeigt sich die Ampel-Koalition in ihrem Vertrag kritischer als die Vorgängerregierung. „Allerdings bleibt die konkrete Ausgestaltung an vielen Stellen vage und bietet damit Konfliktpotenzial innerhalb der Regierung. Denn Unterschiede in den Positionen der Parteien könnten bei der konkreten Umsetzung der China-Politik aufb rechen. China käme das entgegen“, wie Wan-Hsin Liu, die am IfW Kiel unter anderem zu China forscht, in einem Kiel Focus analysiert hat.

Die drei Parteien halten in ihrem Vertrag fest, dass die deutsche Chinapolitik künftig stärker Teil einer gemeinsamen EU-China-Politik sein und das Verhältnis mit China in den Dimensionen „Partnerschaft, Wettbewerb, aber auch Systemrivalität“ gestaltet werden soll. Kritischer gegenüber China sind insbesondere Grüne und FDP. Das spiegelt sich im Koalitionsvertrag etwa darin, dass die Ratifizierung des EU-China-Investitionsabkommens gegenwärtig abgelehnt wird und nicht-vertrauenswürdige Unternehmen beim Ausbau kritischer Infrastrukturen ausgeschlossen werden sollen.

Die konkrete Chinapolitik wird maßgeblich auch davon abhängen, ob die Regierungsparteien eine gemeinsame Position finden und wer andernfalls die Richtung bestimmt. Wäre Außenministerin Annalena Baerbock federführend, würde die deutsche Chinapolitik eher Wettbewerb und Systemrivalität betonen. Hat das Kanzleramt wie bisher die Federführung, wäre dies voraussichtlich weniger der Fall.
Sollten Konflikte innerhalb der Regierung aufbrechen, würde die Verhandlungsposition geschwächt und das Erreichen der eigentlichen Ziele der deutschen Chinapolitik erschwert, so Liu: „Die Chancen auf die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Chinapolitik würden dadurch weiter sinken. Die chinesische Regierung würde solche Konflikte zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen wissen.“

Merkels magere Bilanz in der internationalen Wirtschaftspolitik

Zumindest haben die Vorgängerregierungen die Messlatte für die deutsche Außenwirtschaftspolitik nicht sehr hoch gelegt. „Angela Merkel ist einer deutschen Tradition treu geblieben: geoökonomische Zurückhaltung und Anspruchslosigkeit. Unter ihrer Führung hat sich Deutschland nicht mit einer mutigen internationalen Wirtschaftsstrategie hervorgewagt. … Im Gegenteil. In Merkels Regierungszeit fallen große geostrategische und handelspolitische Niederlagen und Fehleinschätzungen“, schrieb Institutspräsident Gabriel Felbermayr im August im „Handelsblatt“. Dabei hänge in keinem anderen Land der G7 der Wohlstand so stark am Außenhandel wie in Deutschland. Das Ende 2020 ausverhandelte Investitionsabkommen mit China zeige, dass in 16 Merkel-Jahren handelspolitisch mehr möglich gewesen wäre, hätte Deutschland sein Gewicht auf EU-Ebene eingesetzt.

Merkels wichtigstes handelspolitisches Erbe bleibe ein Freihandelsabkommen mit Korea, das 2011 in Kraft trat. Abkommen mit einzelnen ASEAN-Staaten folgten, aber multilaterale Impulse fehlten. Dem gegenüber standen das Scheitern des Handels- und Investitionsabkommens TTIP mit den USA, fehlende Mehrheiten für die Ratifizierung des CETA-Abkommens mit Kanada und ein unvollendetes Abkommen mit den lateinamerikanischen MERCOSUR-Staaten. Mit Blick auf die für Deutschland besonders wichtige EU und den Binnenmarkt sieht Felbermayr „dramatische Misserfolge“: katastrophale wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland, eine fehlende handelsstrategische Perspektive mit der Türkei und als größtes handelspolitisches Debakel den Brexit. „Damit hat die EU ihr zweitgrößtes Mitglied, den zweitgrößten Nettozahler und einen attraktiven Wirtschaftsstandort verloren“, so Felbermayr.

Die EU brauche ein Angebot für Länder, die wirtschaftlich stark und attraktiv, an enger wirtschaftlicher Kooperation, aber nicht an politischer Integration interessiert sind. Daran habe Deutschland als Exportnation das größte Interesse. „Dafür bräuchte es eine strategische Idee und ein mutiges Konzept der Umsetzung, das man der EU-Kommission und den anderen Mitgliedsstaaten näherbringt“, so Felbermayr. Merkels Nachfolger seien hier gefordert.