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Menschen in der EU grundlegend konsensfähig in der Asyl- und Flüchtlingspolitik

Kaum ein Thema gilt innerhalb der Europäischen Union (EU) als so umstritten wie die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Die jeweiligen nationalen Politiken der Mitgliedsstaaten werden mit unterschiedlichen Präferenzen innerhalb der Bevölkerung begründet. Diese scheinbare Uneinigkeit untermauert die gegensätzlichen Verhandlungspositionen, die in den letzten Jahren jegliche Reformen im Hinblick auf eine wirksame, gemeinsame europäische Lösung unmöglich gemacht haben. Wenn man allerdings die Bürgerinnen und Bürger direkt fragt, wie wir es in unserer aktuellen Studie getan haben, zeigt sich ein deutlich harmonischeres Stimmungsbild, das eine grundsätzliche Politikrichtung vorgeben könnte.

Wählermeinungen wird in aller Regel eine hohe Bedeutung beigemessen, und trotzdem sind die Präferenzen der Europäerinnen und Europäer für die Asyl- und Flüchtlingspolitik bisher kaum empirisch untersucht worden. Dies steht in krassem Gegensatz zu einer umfangreichen neuen Literatur, die die Einstellung gegenüber Migrantinnen und Migranten oder Asylsuchenden untersucht. Die wenigen Studien, die es bisher gab, konzentrierten sich auf sehr begrenzte Aspekte der Asyl- und Flüchtlingspolitik und definierten diese auf einer bipolaren Skala (also zwischen den Extremen „Unterstützung“ und „Ablehnung“).

Unsere neue Studie (Jeannet et al., 2021) ist die erste, die systematisch die Präferenzen der Öffentlichkeit gegenüber der Politik in einer multidimensionalen und nicht-binären Weise untersucht, so dass sowohl die Restriktivität als auch die Grenzen und Bedingungen des Schutzes, der Asylsuchenden und Geflüchteten gewährt wird, variieren können. Wir verwenden ein experimentelles Design („Conjoint-Experiment“), das beispielsweise auch in der Marktforschung weit verbreitet ist, wo Unternehmen die Präferenzen von Verbraucherinnen und Verbrauchern für Produkte verstehen wollen, die sich in mehreren Dimensionen unterscheiden.

Befragung von repräsentativen Gruppen in acht Ländern

In dem Experiment wurden die Befragten gebeten, zwischen zwei Politikpaketen zu wählen, die aus sechs Dimensionen bestanden, die die wesentlichen Konzepte der Asyl- und Flüchtlingspolitik widerspiegeln sollten. Dabei handelt es sich um Obergrenzen für Asylanträge, Neuansiedlung, Nicht-Zurückweisung, d.h. ob Menschen zurückgeschickt werden können, wenn sie potenziellen Gefahren wie Folter ausgesetzt sind, Familienzusammenführung, Zentralisierung der Entscheidungsfindung in der EU und finanzielle Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten.

In acht EU-Ländern (Österreich, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Polen, Spanien und Schweden) nahmen landesweit repräsentative Online-Panels mit 1.500 Befragten an dem Experiment teil. Die ausgewählten Länder unterscheiden sich durch ihre Erfahrungen mit Geflüchteten und ihre Arbeitsmarkt-, Wohlfahrts- und Kultureinrichtungen.

Schutz unter kontrollierten Bedingungen präferiert

Aus der Grafik lassen sich die wichtigsten Ergebnisse ablesen. Innerhalb einer Politikdimension ist es wahrscheinlicher, dass die Wählerinnen und Wähler Politikpakete wählen, die sich rechts der vertikalen Linie befinden. Maßnahmen links der Trennlinie verringern die Wahrscheinlichkeit, ein Paket zu wählen, das diese Maßnahmen enthält. Es zeigt sich, dass Europäerinnen und Europäer im Allgemeinen eine Politik befürworten, die Asylsuchenden und Geflüchteten Schutz bietet und dass es keine breite Unterstützung für die völlige Abschaffung von Schutz und Hilfe gibt.

Dieses Engagement für die Gewährung von Schutz hängt jedoch von anderen politischen Merkmalen ab, die gewisse Grenzen oder Bedingungen auferlegen, wodurch eine Kontrolle ermöglicht wird. In einer zweiten Studie (Jeannet et al., 2020) zeigen wir, dass die Präferenz für solche Einschränkungen und Bedingungen stark mit dem Vertrauen in die EU-Institutionen zusammenhängt. Menschen, die der EU nicht vertrauen, bevorzugen tendenziell politische Maßnahmen mit stärkeren Einschränkungen und Bedingungen, während diejenigen, die der Institution vertrauen, weniger bedingte Maßnahmen bevorzugen. Wir argumentieren, dass politische Maßnahmen, die die Unterstützung begrenzen oder Bedingungen auferlegen, für diejenigen, die kein Vertrauen in die Fähigkeit der politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger haben, letztere zu gewährleisten, einen Ersatz für eine effektive Migrationssteuerung darstellen.

Auswirkungen von Politikmerkmalen auf die Wahrscheinlichkeit, eine Asyl- und Flüchtlingspolitik zu akzeptieren

Die Abbildung zeigt sogenannte durchschnittliche marginale Komponenteneffekte (average marginal component effects, AMCEs), um die Auswirkungen von Politikmerkmalen auf die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz einer Asyl- und Flüchtlingspolitik im Vergleich zur Referenzkategorie der Dimension anzuzeigen. Wenn beispielsweise abgelehnte Asylbewerber in Situationen zurückgeschickt werden, in denen ihnen Gefahr droht, verringert sich die öffentliche Unterstützung für die Asyl- und Flüchtlingspolitik im Vergleich zu politischen Maßnahmen, die abgelehnte Asylbewerber nie in solche Situationen zurückschicken (AMCE=-0,037, das bedeutet, dass die öffentliche Unterstützung für die Asyl- und Flüchtlingspolitik um etwa 4 Prozentpunkte sinkt). Auch Politiken, die anerkannten Flüchtlingen keine Möglichkeit zur Familienzusammenführung bieten, werden von der Öffentlichkeit weniger unterstützt als Politiken, die eine Familienzusammenführung immer zulassen (AMCE=-0,047).

Die Menschen in Europa sind sich grundsätzlich einig

Insgesamt ist das Muster der Präferenzen (d.h. die Bevorzugung von Schutz in Kombination mit Einschränkungen und Bedingungen) in den europäischen Ländern bemerkenswert ähnlich und gilt sowohl für die alten als auch für die neuen EU-Mitgliedsstaaten. Selbst in Ungarn, wo die Regierung besonders stark gegen Geflüchtete eingestellt ist, will die Öffentlichkeit nicht, dass der Schutz von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und Geflüchteten vollständig eingestellt wird. Dieser Befund, dass die Präferenzen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen den einzelnen Ländern ähnlich sind, steht im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, dass Europa in diesen Fragen gespalten ist und die Regierungen daher keine Möglichkeit haben, Reformen umzusetzen, die in allen Ländern auf öffentliche Unterstützung stoßen.

Im Gegenteil, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass es eine gemeinsame Grundlage für politische Reformen gibt, die in ganz Europa auf breite öffentliche Unterstützung stoßen würden. Diese Maßnahmen würden Schutz und Unterstützung bieten, allerdings müssten durchaus politische Konzepte in Betracht gezogen werden, die stärker auf Grenzen und Bedingungen setzen.

Unsere Studien bedeuten nicht, dass die Politik ausschließlich auf den Präferenzen von Wählerinnen und Wählern basieren sollte. Menschenrechte, internationale Vertragsverpflichtungen und dergleichen sind grundlegendere Kriterien, die die Politik erfüllen muss. Dies gilt insbesondere für politische Maßnahmen wie den Schutz von Geflüchteten, die ein globales öffentliches Gut darstellen und daher in internationalem Recht begründet sind (zum Beispiel in der Genfer Konvention). Andersherum könnte es zu ernsthaften politischen Konflikten kommen, wenn die Politik nicht mit den Präferenzen der Wählerinnen und Wähler übereinstimmt. Nationale Regierungen könnten sich unter Druck gesetzt fühlen und ihre aktive Beteiligung an der Bereitstellung dieser globalen öffentlichen Güter verringern.

Zugehörige Publikationen

  • Arbeitspapier

    A need for control? Political trust and public preferences for asylum and refugee policy EUI RSCAS Working Paper
    01/2020 Download

    Political trust matters for citizens’ policy preferences but existing research has not yet considered whether this effect depends on how policies are designed. To fill this gap, this article analyses whether and how policy design and political trust interact in shaping people’s policy preferences. We theorise that policy controls such as limits and conditions can function as safeguards against uncertainty, thereby compensating for a person's lack of trust in political institutions in generating support for policy provision. Focusing on the case of public preferences for asylum and refugee policy, our empirical analysis is based on an original conjoint experiment with 12,000 respondents across eight European countries. Our results show that individuals’ trust in the political institutions of the European Union has a central role in the formation of their asylum and refugee policy preferences. Individuals with lower levels of political trust in European institutions are less supportive of asylum and refugee policies that provide expansive, unlimited, or unconditional protection and more supportive of policies with highly restrictive features. We also demonstrate that even politically distrusting individuals can systematically support policies that provide protection and assistance to refugees if there are limits or conditions on policy provision. We conclude by discussing the relevance of our findings to theoretical understandings of the role of political trust in the formation of individuals’ policy preferences.

Literatur:

Jeannet, A.-M., T. Heidland und Martin Ruhs (2021). What Asylum and Refugee Policies do Europeans Want? Evidence From a Cross-National Conjoint Experiment. European Union Politics, 22 (3): 353–376.

Jeannet, A.-M., T. Heidland und Martin Ruhs (2020). A Need for Control? Political Trust and Public Preferences for Asylum and Refugee Policy. Robert Schuman Centre for Advanced Studies Research Paper 2020-01.