Wirtschaftspolitischer Beitrag

China liegt flach: das Ende des chinesischen Booms und die Folgen für Europa

Autor

  • Moritz Schularick
Erscheinungsdatum

Experte IfW Kiel

Europa muss umdenken: Nicht die Stärke der chinesischen Wirtschaft, sondern ihre Schwäche ist die größte Herausforderung der nächsten Jahre.

Der aktuelle wirtschaftspolitische Diskurs in Europa ist geprägt von Unbehagen über Chinas wachsenden ökonomischen Einfluss. Die Stimmung in Peking ist eine ganz andere. Vor Ort sind Unsicherheit und Desillusionierung mit Händen zu greifen: „Wir haben keine Ahnung, wie dieses Land in 10, 15 Jahren aussehen wird“, ist ein Satz, den ich auf einer kürzlichen Reise nach Peking mehr als einmal von jungen Chinesen gehört habe. Aus der Innenperspektive sah China noch nie so schwach aus und sein weiterer Entwicklungsweg erschien noch nie so unsicher wie heute.

Mittlerweile greift ein viel diskutiertes kulturelles Phänomen in China um sich: „Flachliegen“. Im Gegensatz zu dem unternehmerischen Geist früherer Generationen sehen sich junge chinesische Hochschulabsolventen heute mit hoher Arbeitslosigkeit und unsicheren Karriereaussichten konfrontiert. In großer Zahl entscheiden sie sich jetzt dafür, zu Hause zu bleiben und das Leben zu genießen. „Sie liegen flach“.

Seit Deng Xiaopings Reformen bestand der chinesische Gesellschaftsvertrag aus dem Versprechen von wirtschaftlichem Wohlstand und kompetenter Führung als Ersatz für politische Freiheiten. Nach dem allzu offensichtlichen Missmanagement von Covid und dem Platzen der Immobilienblase ist dieser Pakt dabei zu zerfasern.

Die aktuelle Führung mit ihrer unbefristeten Amtszeit, dem Misstrauen gegenüber dem Privatsektor und ihrer Abneigung gegen Reformen bringt bereits viele Chinesen dazu, ihr Geld aus dem Land zu schaffen. China war lange ein Magnet für globale Investoren auf der Suche nach chinesischen Arbeitskräften und Unternehmergeist.

In letzter Zeit haben sich die ausländischen Direktinvestitionen ins Negative gewendet. Allein im September erreichten die Devisenabflüsse 75 Milliarden Dollar. Reiche chinesische Familien sind auf der Suche nach Sicherheit für ihr Vermögen. Angesichts der Flut chinesischer Fluchtgelder führte Singapur Anfang des Jahres eine 60%ige Steuer auf ausländische Immobilienkäufe ein.

Keine Wetten mehr aufs Haus

Auf der wirtschaftlichen Seite hat China mit den Nachwirkungen des Platzens einer immensen kreditfinanzierten Immobilienblase zu kämpfen. Die beiden größten Immobilienentwickler des Landes, Evergrande und Country Garden, befinden sich in massiver finanzieller Schieflage. Viele, wenn nicht sogar die meisten der Schattenbanken, die den Bauboom finanziert haben, sind zahlungsunfähig. Ken Rogoff schätzte in einem kürzlich erschienenen Artikel für Economic Policy, dass der Immobiliensektor in China in den letzten zehn Jahren 20–30 Prozent des BIP ausmachte. Die Immobilienpleite hinterlässt also nicht nur ein großes Loch in den Bilanzen der Banken, sondern auch im chinesischen Wachstumsmodell.

„Credit bites back“ war der Titel eines Papiers, das ich vor einiger Zeit zusammen mit Alan Taylor und Òscar Jordà geschrieben habe. Darin zeigten wir, dass es in der Regel viele Jahre dauert, bis sich normales Wachstum nach dem Platzen von kreditfinanzierten Immobilienblasen wiedereinstellt. Der Grund dafür ist, dass die Haushalte ihre Kredite zurückbezahlen und ihre Sparquote erhöhen, während die Neubautätigkeit zum Stillstand kommt.

Die Erkenntnisse aus dem Papier lassen sich nahezu eins zu eins auf das heutige China anwenden: geplatzte Immobilienblasen erfordern die volle Aufmerksamkeit der politischen Entscheidungsträger. Schnelligkeit ist von entscheidender Bedeutung: Faule Kredite müssen identifiziert und Banken bei Bedarf rekapitalisiert werden. Ein hohes nominales BIP-Wachstum ist wichtig, um die Schuldenquoten nicht rapide ansteigen zu lassen, einen weiteren Verfall der Vermögenspreise zu vermeiden und Deflation zu vermeiden. China liebäugelt bereits mit der Deflation. Die Verbraucherpreise sind im Vergleich zum Vorjahr um 0,2 Prozent gesunken, während die Erzeugerpreise bereits seit Monaten rückläufig sind.

Selbst bei schneller und kompetenter Wirtschaftspolitik dauert es seine Zeit, bis sich die Volkswirtschaften anpassen, wie uns die Erfahrung der 2010er Jahre in den USA und Europa gelehrt hat. In China ist eine koordinierte wirtschaftspolitische Antwort auf die großen Herausforderungen bisher nicht in Sicht.

Austerität auf Chinesisch

Anstatt das Immobilienproblem in Angriff zu nehmen, ist Peking sogar dabei, einen europäischen Fehler zu wiederholen: öffentliches Sparen zur Unzeit. Auf die Kommunen und Städte in China entfällt etwa die Hälfte aller öffentlichen Ausgaben, die wiederum etwa ein Drittel des BIP ausmachen. Ein erheblicher Teil der Einnahmen der Städte besteht aus Grundstücksverkäufen an Immobilienentwickler. Je nach Region konnte dies 30 Prozent oder mehr der öffentlichen Gesamteinnahmen ausmachen.

Mit der Immobilienpleite sind die Einnahmen aus Grundstücksverkäufen weitgehend versiegt, was ein großes Loch in den lokalen Haushalten hinterlässt. Bislang hat sich die Zentralregierung geweigert, die Anpassung zu erleichtern und den Kommunen damit prozyklische Ausgabenkürzungen aufgezwungen. „Jeder kümmert sich um sein eigenes Kind“, lautet die politische Direktive aus Peking: Die lokalen Regierungen müssen ohne Hilfen über die Runden kommen.

Infolgedessen hat die chinesische Makropolitik heute einiges mit Griechenland nach 2008 gemeinsam: gleichzeitiger öffentlicher und privater Schuldenabbau nach einer Kreditblase. Dieser Policy-Mix wird das Wachstum unter Druck setzen und den Deflationsdruck erhöhen. Wie eine kürzlich erschienene hervorragende Arbeit eines ehemaligen Doktoranden von mir (und seiner Koautoren) zeigt, führen Austeritätspolitik und der Abbau öffentlicher Dienstleistungen auf lokaler Ebene zu politischer Unzufriedenheit. Wir werden sehen, ob das auch auf China zutrifft.

Kann China zu Griechenland aufschließen?

In einem kürzlich erschienenen Blogbeitrag meiner ehemaligen Kollegen von der Federal Reserve Bank of New York wurde die Frage gestellt, ob China bis zum Jahr 2035 beim Pro-Kopf-Einkommen mit Griechenland gleichziehen kann. Höchstwahrscheinlich, so argumentieren die Autoren, lautet die Antwort nein. Die Gründe dafür sind nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell.

Volkswirtschaften können wachsen, weil sie mehr Arbeit oder Kapital einsetzen oder beides effektiver kombinieren. Das Kapital-Output-Verhältnis in China gehört bereits zu den höchsten der Welt, und die Kapitalakkumulation stößt unweigerlich auf abnehmende Erträge und steigende Abschreibungen. Die New Yorker Fed schätzt, dass die Investitionen in Zukunft nur noch etwa 1,5 Prozentpunkte zum chinesischen BIP-Wachstum beitragen können. Auf der Arbeitnehmerseite wird China bis 2035 mit einem Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um 6 Prozent zu kämpfen haben.

Dies bedeutet, dass das Produktivitätswachstum das Gesamtwachstum von hier tragen muss. Doch in einer Wirtschaft, die mit dem Abbau von Schulden im privaten Sektor und Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor sowie Kapitalabflüssen und einer Regierung konfrontiert ist, die dem Privatsektor skeptisch gegenübersteht, ist eine Beschleunigung des Produktivitätswachstums eine ferne Hoffnung.

Alles in allem wäre es ein Erfolg, wenn China in den nächsten zehn Jahren eine Wachstumsrate von 3 Prozent erreichen würde. Es könnte weniger sein. Auf jeden Fall wird ein Wachstum in dieser Größenordnung nicht ausreichen, um Griechenland beim Pro-Kopf-Einkommen einzuholen, geschweige denn die USA im Hinblick auf die Größe der Volkswirtschaft.

Exporte als Ausweg

Angesichts der großen Herausforderungen zeichnet sich ab, dass China (ähnlich wie Deutschland in den 2000er Jahren) versuchen wird, sich aus der Krise gleichsam heraus zu exportieren. Während der Pandemie hat China, oft mit subventionierten öffentlichen Krediten, enorme Kapazitäten im Automobilsektor aufgebaut, und zwar sowohl für Elektrofahrzeuge als auch für Autos mit Verbrennungsmotor. Chinas aktuelle Produktionskapazitäten sind weitaus größer als der heimische Markt aufnehmen kann.

Die Welt und vor allem Europa müssen sich auf eine wahre Flut chinesischer Autoexporte auf globalen Märkten vorbereiten, sobald die erforderlichen Verschiffungskapazitäten dafür zur Verfügung stehen. Die Rentabilität wird für die subventionierten chinesischen Automobilhersteller dabei wohl nur eine untergeordnete Rolle spielen; steigende Mengen und wachsende Marktanteile sind die Hauptziele.

Die gute Nachricht ist, dass China erneut Überkapazitäten exportieren und damit wieder zu einer Quelle von Disinflation werden wird. Das sind gute Neuigkeiten für die weitere Zinsentwicklung. Aber die Konkurrenz wird die Probleme der deutschen Autoindustrie verschärfen. Chinas Handelsbilanzüberschuss, der sich bereits auf 900 Milliarden Dollar beläuft, wird weiter steigen. Die Rufe nach Protektionismus in der EU werden lauter werden.

Das letzte Kapitel von Chimerica

In den 2000er Jahren haben Niall Ferguson und ich das Wort Chimerica geprägt, um die Symbiose der chinesischen und der amerikanischen Wirtschaft zu beschreiben. Chimerica war der Motor der Weltwirtschaft. Auf die beiden Länder entfiel ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung und 40 Prozent des globalen Wachstums von 1998 bis zur Finanzkrise von 2008. Chimerica hat China aus der Armut katapultiert und die vielen Widersprüche des chinesischen Wachstumsmodells übertüncht.

Das Ende des chinesischen Wirtschaftswunders ist nunmehr in Sicht, wie Adam Posen vom Peterson Institute es in einem kürzlich erschienenen Artikel in Foreign Affairs treffend formulierte. Belastet durch hohe Schulden, vergangene Überinvestitionen, Sparpolitik zur Unzeit und politische Unsicherheit werden die Wachstumserwartungen deutlich fallen.

Zumindest in einer Hinsicht könnte das schwache Wachstum in China aber eine gute Nachricht für die Welt sein. Wenn China zu schnell wachsen und rapide an wirtschaftlicher Macht gewinnen würde, dürfte sich die Konfrontation mit den USA unweigerlich zuspitzen. Wächst China zu langsam, könnte politische Instabilität zu einem echten Risiko werden. Unter diesem Gesichtspunkt könnte eine niedrige chinesische Wachstumsrate von 2 bis 3 Prozent in den nächsten zehn Jahren durchaus die beste Voraussetzung für den globalen Frieden sein.

Entscheidend aber ist, dass sich Europa und insbesondere Deutschland auf das neue Umfeld einstellen müssen. China wird in den kommenden Jahren ein weniger dynamischer Markt für deutsche Investitionsgüterexporte sein – von Autos ganz zu schweigen. Die fetten Jahre sind lange vorbei.

Stattdessen wird China zunehmend auf Exporte setzen, um seine Probleme in der heimischen Wirtschaft zu kompensieren. In vielen Sektoren wird dies insbesondere die chinesische Autoindustrie in einen scharfen Wettbewerb mit europäischen Herstellern bringen. Es ist daher höchste Zeit für Europa, seine Perspektive zu ändern: Nicht die Stärke, sondern die Auswirkungen der Schwäche der chinesischen Wirtschaft werden zu einer zentralen Herausforderung in den nächsten Jahren werden.


Coverfoto: © stock.adobe.com | Cedar

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