Wirtschaftspolitischer Beitrag

Auf der Suche nach dem Gleichgewicht

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Autor

  • Dennis J. Snower
Erscheinungsdatum

Chinas Wachstum verlangsamt sich, das Land ist keine Lokomotive mehr für die Weltwirtschaft. Nur wenn ökonomische Ungleichgewichte abgebaut werden, ka

Experte IfW Kiel

Es ist das Ende einer Epoche: China hat in den vergangenen Jahren die Weltwirtschaft wie eine Lokomotive gezogen – und sie damit auch über Finanz- und andere Krisen hinweg in Schwung gehalten. Doch nun geht diese Erfolgsstory zu Ende. Wiederholte Börsenturbulenzen haben das Reich der Mitte in jüngster Zeit erschüttert, der Aktienindex CSI 300 ist auf den tiefsten Stand seit mehr als einem Jahr gefallen. Zugleich steht die chinesische Währung kräftig unter Abwertungsdruck: Trotz wiederholter Eingriffe der chinesischen Notenbank hat der Renminbi gegenüber dem US-Dollar innerhalb eines Jahres rund fünf Prozent seines Wertes eingebüßt.

Die Turbulenzen an den Finanzmärkten spiegeln die Sorgen um die chinesische Konjunktur und sind ein Ergebnis der großen ökonomischen Ungleichgewichte in dem Land. Nur wenn China diese entschlossen angeht, wird es mittelfristig ein stabiles Wachstum erreichen können. Zugleich muss China sich darüber klar werden, dass ein Regime fester Wechselkurse, kombiniert mit einer unabhängigen Geldpolitik und freien Kapitalmärkten nicht funktionieren kann – und Kompromisse finden.

In jedem Fall müssen wir uns darauf einstellen, dass die Rückkehr zu früheren Wachstumsraten sehr unwahrscheinlich ist. Die Regierung vermeldete zuletzt 6,9 Prozent, wobei die tatsächliche Quote deutlich darunter, bei um die sechs Prozent, liegen dürfte. Das wäre für chinesische Verhältnisse fast schon rezessionär. Und es dürfte weiter abwärtsgehen: Eine dauerhafte Verlangsamung des Wachstums auf vier bis fünf Prozent wäre für eine aufholende Volkswirtschaft durchaus typisch. So sind etwa die chinesischen Löhne zuletzt deutlich gestiegen, und das Land leidet selbst inzwischen unter neuen Billigkonkurrenten, die sich auf dem Weltmarkt etablieren konnten.

In der stürmischen Wachstumsphase Chinas haben sich enorme Ungleichgewichte gebildet: Die Staatsverschuldung ist stark gestiegen, zudem ist eine Immobilienblase entstanden. Viele Unternehmen haben darüber hinaus hohe Überkapazitäten aufgebaut. Nun steht das Reich der Mitte an einem Scheideweg. Das Land muss innerhalb weniger Jahre eine ganze Reihe an Herausforderungen meistern, um die Lage zu stabilisieren.
 
Zum einen muss das Land sein Bankensystem reformieren und darf hoch verschuldete Staatskonzerne nicht mehr auf Kosten privater Unternehmen schützen. Zugleich muss es einen eigenständigeren Kurs in der Währungs- und Wirtschaftspolitik finden und kann nicht nur dem Druck des Westens nachgeben. Das bedeutet vor allem, dass China auch längerfristig keine Politik der festen Wechselkurse und freien Kapitalmärkte verfolgen kann. Es ist das bekannte Trilemma des Wechselkursregimes, das selbstverständlich auch für China gilt: Eine unabhängige Geldpolitik, ein mehr oder minder fester Wechselkurs und ein freier Kapitalmarkt gleichzeitig sind nicht vereinbar.

Wenn Anleger diese Unvereinbarkeit nicht vor Augen haben, werden ihre Erwartungen unwillkürlich enttäuscht werden – die Folge wären entsprechende Turbulenzen an den Finanzmärkten. Ein fester Wechselkurs bei freiem Kapitalmarkt würde zum Beispiel die Geldpolitik bestimmen, die gewährleisten müsste, dass der Wechselkurs nicht schwankt. China braucht jedoch eine unabhängige Geldpolitik, um Konjunkturschwankungen zu dämpfen; es braucht einen stabilen Wechselkurs, um Finanzmarktturbulenzen zu vermeiden; und es braucht einen freien Kapitalmarkt, um sich sinnvoll in die internationalen Finanzmärkte eingliedern zu können. Weil man nicht alles gleichzeitig haben kann, wird die Regierung Kompromisse finden müssen – und deren Charakteristika werden große Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben.

Weiterhin muss das Land vor allem durch seine Strukturpolitik gewährleisten, dass es seine wichtige Rolle in der Weltwirtschaft behält. Den sich derzeit vollziehenden industriellen Wandel zu verschlafen, würde bedeuten, dauerhaft wirtschaftlich abgehängt zu werden. Um das Vertrauen der Märkte zu stärken und die Intentionen der Wirtschaftslenker zu verdeutlichen, sollten die laufenden Reformvorhaben schneller vorangetrieben werden.
 
Der Konsum sollte dabei durch den Ausbau eines nachhaltigen Wohlfahrtsstaates vorangetrieben werden, um die Investitionen als Motor der Wirtschaft abzulösen. Ein Strukturwandel weg von einer export- und investitionsgetriebenen Wirtschaft hin zu einer stärkeren Orientierung am Dienstleistungssektor und dem privaten Konsum würde zudem die Abhängigkeit der chinesischen Wirtschaft von der Weltkonjunktur reduzieren. Wie glatt ein solcher Übergang vonstattengehen kann, ist jedoch fraglich.

In jedem Fall sollte die chinesische Regierung die übermäßigen staatlichen Investitionen in physisches Kapital durch mehr Investitionen in Humankapital ersetzen. Denn Ersteres bringt vergleichsweise wenig Ertrag, während Investitionen in Erziehung und Ausbildung dringend notwendig sind, um den Folgen der Alterung der Gesellschaft vorzubeugen. Zugleich ließe sich auf diese Weise der private Konsum besser fördern als durch die aktuellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen wie etwa den Anstieg von Mindestlöhnen und Rentenansprüchen.

Nur durch verstärkte Investitionen in Humankapital wird China auch das angepeilte Ziel, mehr Innovationen statt lediglich Imitationen für die globale Wirtschaft zu liefern, schneller erreichen können. Dafür sind aber auch tiefgreifende kulturelle Veränderungen erforderlich – weg von hierarchischen Strukturen, hin zu mehr Eigenverantwortung und Freiheit. Solche Veränderungen sind nicht über Nacht zu erreichen, sondern erfordern einen tiefgreifenden Wertewandel, der leicht ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen kann.

Gelingt es der Regierung nicht, die anstehenden Herausforderungen zu meistern, wird die chinesische Wirtschaft noch lange unter ihrer sich derzeit anbahnenden Schwäche leiden. Dann wären die aktuellen Turbulenzen erst der Anfang einer längerfristigen Seitwärts- oder gar Abwärtsbewegung. Die einstige Lokomotive der Weltwirtschaft hätte dauerhaft Sand im Getriebe – und das würde nicht nur China schaden, sondern die Wirtschaft weltweit in Mitleidenschaft ziehen.

(Dieser Beitrag erschien in leicht veränderter Form als Gastbeitrag in Die Zeit vom 11.02.2016.)