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Für das Ende der Katastrophe gewappnet - Modellsimulationen für die jemenitische Wirtschaft

Wirtschaftliche Daten aus Ländern, die sich in massiven bewaffneten Konflikten befinden, sind in aller Regel nur fragmentarisch vorhanden oder fehlen komplett. Umso schwerer ist es dann, die richtigen Maßnahmen zum Wiederaufbau des Landes einzuleiten, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Modellsimulationen können hier wertvolle Informationen liefern, wie wir am Beispiel des Jemen zeigen. Sollte das Land die Chance zum Wiederaufbau bekommen, könnte es nach unseren Ergebnissen von einer gezielten Förderung des Bergbaus und der Landwirtschaft am meisten profitieren.

Der Jemen, eines der ärmsten Länder der Welt, ist seit dem Arabischen Frühling 2011 instabil. Nach mehreren turbulenten Jahren begann im März 2015 der ausgewachsene bewaffnete Konflikt, als der im Exil lebende Interimspräsident Abd-Rabbu Mansour Hadi die militärische Intervention der Arabischen Koalition zur Wiederherstellung seiner Regierung forderte. Der Konflikt hatte katastrophale Folgen für das jemenitische Volk und verursachte eine beispiellose humanitäre Krise.

Auch die jemenitische Wirtschaft leidet massiv unter den Folgen des bewaffneten Konflikts, der für Zwangsumsiedlungen sorgt, große Teile des Landes zerstört, die Mobilität von Gütern und Personen stark einschränkt und den Menschen im Land kaum ein wirtschaftliches und soziales Fortkommen ermöglicht. Infolge dieser multidimensionalen Auswirkungen und fehlender Daten lässt sich der genaue Zustand der jemenitischen Wirtschaft allerdings nur sehr schwer verlässlich einschätzen. Sollte sich irgendwann doch ein Ende des Konflikts abzeichnen, wäre eine realistische Einordnung allerdings sehr hilfreich, als Grundlage für politische Entscheidungen für Wiederaufbau und Versöhnung.

Daten sind in Krisengebieten Mangelware

Drei Gründe erschweren eine realistische Einschätzung der Lage im Jemen. Erstens wurden die offiziellen Statistiken im Jemen seit Beginn des bewaffneten Konflikts im März 2015 nicht mehr aktualisiert. Zweitens gibt es keinen umfassenden Indikator, der das volle Ausmaß aller möglichen Auswirkungen erfasst. Internationale Organisationen und politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger müssen sich bei der Einschätzung der aktuellen Wirtschaftslage auf anekdotische Hinweise verlassen. Drittens, und das ist der wichtigste Punkt, erschwert das Fehlen zuverlässiger kontrafaktischer Daten die Folgenabschätzung.
Standardmethoden wie makroökonometrische Modelle sind datenintensiv und können daher nicht verwendet werden, um die Auswirkungen von Konfliktschocks auf die jemenitische Wirtschaft zu zerlegen oder deren Entwicklung zu prognostizieren. Angesichts dieser Datenknappheit greifen wir auf Simulationsmodelle zurück, um die Auswirkungen des Konflikts und den Wiederaufbau der jemenitischen Wirtschaft nach dem Konflikt abzuschätzen.

Methodik: Wie fragmentierte Evidenz systematisch modelliert werden kann

Als Ausgangspunkt für unsere Analyse stellen wir die neuesten verfügbaren Daten auf Makro- und Mikroebene des Jemen zu einer umfassenden gesamtwirtschaftlichen Datenbasis zusammen, die die Wirtschaft vor dem Konflikt repräsentiert. Dazu gehören beispielsweise die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (2014), die Haushaltserhebung (2014) und die Industrieerhebung (2013). In einem nächsten Schritt analysieren wir verschiedene fragmentierte Berichte über die Konfliktschäden im Land und spezifizieren eine Reihe quantifizierbarer Schocks, von denen bekannt ist, dass sie das Land zwischen 2015 und 2020 getroffen haben. Anschließend integrieren wir die gesammelten Informationen über die Konfliktschocks in ein Computable General Equilibrium (CGE)-Modell für den Jemen und simulieren die Verschlechterung der wirtschaftlichen Aktivität und des Haushaltseinkommens während der Konfliktphase von 2015 bis 2020. Das CGE-Modell berücksichtigt die Verflechtungen zwischen Produzenten und zwischen Produzenten und Verbrauchern, der Regierung und dem Rest der Welt, sowohl über die Märkte für Waren und Produktionsfaktoren als auch über Finanztransaktionen, und erfasst daher nicht nur die direkten, sondern auch die indirekten Auswirkungen des Konflikts (Abbildung 1).
Schließlich gehen wir von einem Ende des Konflikts im Jahr 2021 aus und analysieren das Spektrum der möglichen Post-Konflikt-Pfade des Landes bis 2025 (von einer vollständigen Stagnation auf dem Niveau von 2020 bis zu einer vollständigen Erholung auf das Vorkonfliktniveau von 2014).

Schätzungen der wichtigsten Wirtschaftsindikatoren in der Konflikt- und Nachkonfliktphase im Jemen

Ergebnisse und Empfehlungen für den Wiederaufbau

Schon vor dem Ausbruch des Konflikts gehörte der Jemen zu den am wenigsten entwickelten und ärmsten Ländern der Welt, mit einem jährlichen Pro-Kopf-BIP von 1.351 US-Dollar und einer Bevölkerung, die fast zur Hälfte unterhalb der nationalen Armutsgrenze lebt (48,6 Prozent).

Die konfliktbedingten Schocks haben das ohnehin schon verarmte Land verwüstet (Abbildung 2, 2014– 2020). Unseren Schätzungen zufolge schrumpfte das BIP zwischen 2014 und 2020 um 36 Prozent, wobei die konfliktbedingten Behinderungen im Bergbau, der von der Erdöl- und Gasproduktion dominiert wird, und in der Landwirtschaft mit den schwerwiegendsten wirtschaftlichen Verlusten verbunden waren. Die Armutsquote erreichte 79,9 Prozent der Bevölkerung, wobei die Lage in den ländlichen Gebieten besonders schlimm ist: Neun von zehn Einwohnerinnen und Einwohnern leben unterhalb der Armutsgrenze.

Folglich sollte der Erholung des Bergbaus und der Landwirtschaft höchste Priorität eingeräumt werden, da sie den schnellsten Weg zur Wiederbelebung des Landes darstellen dürfte (Abbildung 2, 2021–2025). Insbesondere die Erholung des Bergbausektors dürfte der effektivste Weg sein, um die Wirtschaft nach dem Konflikt anzukurbeln, und die Erholung der Landwirtschaft hat die stärksten Auswirkungen auf die Armutsbekämpfung und den realen Pro-Kopf-Verbrauch (siehe Wiederaufbauszenarien für Bergbau (lila) und Landwirtschaft (grün)).

Strukturelle Schwächen von vor der Krise und von noch nicht quantifizierten Konfliktfolgen wirken nach

Gleichzeitig deuten unsere Schätzungen darauf hin, dass es selbst dann, wenn es dem Jemen gelingt, alle konfliktbedingten Schocks auszugleichen, sehr unwahrscheinlich ist, ohne institutionelle Reformen und allgemeine qualitative Verbesserungen in der Wirtschaft (hellblau) den wirtschaftlichen und armutsbezogenen Status quo von vor dem Konflikt zu erreichen. Da das Land jedoch vor dem Konflikt jahrzehntelang nicht in der Lage war, eine solche Politik umzusetzen, erscheinen diese Szenarien allzu optimistisch. Angesichts anderer, noch nicht quantifizierter Konfliktfolgen wie Unterernährung, Krankheiten, erhöhtem Qat-Konsum und anderen Faktoren, die das Humankapital schmälern, erscheint es zudem sehr unwahrscheinlich, dass der Jemen in absehbarer Zeit das Einkommens- und Armutsniveau von vor dem Konflikt erreichen wird.

Angesichts des nachgewiesenen Zusammenhangs zwischen Armut und bewaffneten Konflikten deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Stabilisierung des Landes mehr Hilfe erfordert, als im derzeit vorgesehenen Fünfjahresplan zum Wiederaufbau der beschädigten Vermögenswerte und Sektoren in Höhe von geschätzten 32 Mrd. US-Dollar vorgesehen ist. Unsere Simulationsergebnisse können für genauere Schadensschätzungen und Wiederaufbaupläne im Jemen, wie sie derzeit geplant sind, als erster Schritt zum Verständnis des Status quo und des Wiederaufbaupotenzials des Landes dienen.

Literatur:

Mukashov, A., C. Breisinger, W. Engelke und M. Wiebelt (2022). Modelling Conflict Impact and Post-Conflict Reconstruction: The Case of Yemen. Economic Systems 46 (1). https://doi.org/10.1016/j.ecosys.2022.100940

Raouf, M., et al. (2018). The (Arab) Agricultural Investment for Development Analyzer (AIDA): An Innovative Tool for Evidence-Based Planning. MENA RP Working Paper 06. International Food Policy Research Institute, Washington, DC.