Lateinamerika erneut am Scheideweg?

04 Feb 2020

Finanzkrisen zählten in Lateinamerika in der Vergangenheit zu den wiederkehrenden Ereignissen, die typisch für die Region waren. In den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts scheinen derartige Ereignisse jedoch seltener geworden zu sein, sieht man einmal von Argentinien und Venezuela ab. Stattdessen fallen lateinamerikanische Länder zunehmend als Orte auf, in denen sich Straßenproteste häufen, die sich gegen die Regierungen und die in den Parlamenten etablierten politischen Parteien richten. Was ist geschehen?  Betroffen sind u.a. Argentinien, Bolivien, Chile, Ecuador, Haiti und Peru. Entzündet haben sich die Unruhen an Benzinpreiserhöhungen, Subventionskürzungen, Wahlfälschungen, Verletzungen der Verfassung und an der Zunahme der Korruption. Dahinter scheint sich jedoch viel mehr zu verbergen, als die Proteste unmittelbar vermuten lassen.

Die Antwort auf die Frage, welche Beweggründe die jüngste Entwicklung ausgelöst haben könnten, lieferten Professor Günther Maihold, stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, und Orlando Baquero, Hauptgeschäftsführer des Lateinamerikavereins, Hamburg.     

Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ist in den meisten Ländern zutiefst erschüttert, der Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Politik am Ende. Die hinter den Regierungen jedweder Couleur stehenden Eliten entziehen sich dem Austausch mit den Protestierenden und versuchen, mit schnellen und einfachen Zugeständnissen die Gemüter zu beruhigen. Die alte Strategie, die Unzufriedenen einzubinden, und zwar in der Regel ohne auf ihre Forderungen einzugehen,  geht in den meisten Ländern nicht mehr auf. Ein Stück Normalisierung macht sich in Lateinamerika breit. Die Eliten werden plötzlich zu einem Gespräch auf Augenhöhe mit den sozialen Gruppen genötigt, die auf die Straße gehen, weil sie an der Macht beteiligt werden wollen. Interessanterweise geschieht dieser politische Strukturwandel zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Wirtschaft gleich in mehreren Ländern sehr positiv entwickelt. Indikatoren zum Wirtschaftswachstum und Außenhandel begründen ebenso wie der weitgehende Abbau des Protektionismus die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Lateinamerika für Investitionen aus dem Ausland.

Sprecher:

Professor Günther Maihold, stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

Orlando Baquero, Hauptgeschäftsführer des Lateinamerikavereins, Hamburg