Wirtschaftspolitischer Beitrag

Wie Deutschland weltweites Impfen voranbringen kann

Autor

  • Michael Stolpe
Erscheinungsdatum

Forderungen nach einer Freigabe der Patente für Corona-Impfstoffe sollte die Bundesregierung als G7-Vorsitzende mit dem Vorschlag einer Auktion kontern.

Experte IfW Kiel

Im Kampf gegen das Omikron-Virus setzt die neue Bundesregierung zu Recht auf schnelles Impfen und Boostern. Beides zählt aber nicht nur in Deutschland und ist auch weltweit wichtig. Im Wettlauf gegen ein stark mutierendes Virus braucht die ganze Menschheit plötzlich viel mehr hochwirksamen Impfstoff als gedacht. Manche der Vakzine ohne mRNA-Technologie, die in China und anderen nicht-OECD-Ländern in großem Stil verimpft wurden, bieten wohl auch als Booster vor Omikron keinen ausreichenden Schutz.

Um die Produktionskapazitäten für hochwirksame Vakzine rasch auszuweiten, wäre es jetzt am besten, wenn eine globale Institution wie die internationale Impfinitiative COVAX die Patentrechte an den vielversprechendsten Impfstoffen aufkauft und allen technisch qualifizierten Impfstoff- und Generikaherstellern weltweit kostenlose Herstellungslizenzen anbietet. Der dann einsetzende weltweite Wettbewerb in der Produktion jedes Vakzins wird das Impfstoffangebot rasch steigen und die Preise auf das Niveau der Grenzkosten in den günstigsten Produktionsstandorten sinken lassen. Alle Länder würden davon profitieren.

Impfungen weltweit beschleunigen

Ein fairer und anreizkompatibler Preis für die relevanten Patente lässt sich in effizienten Auktionsverfahren ermitteln. Passende Auktionsdesigns haben die Wirtschaftswissenschaften schon vor Jahren entwickelt. Weil die jetzigen Inhaber die Patente dann freiwillig an COVAX verkaufen, würden auch sie gewinnen – verglichen mit dem auch aufgrund niedriger Impfquoten in vielen Ländern begrenzten finanziellen Gewinn, den sie bei alleiniger weltweiter Vermarktung ihrer selbst produzierten Impfstoffe erwarten können. Die Anreize zu weiterer Impfstoffforschung und -entwicklung bleiben nicht nur erhalten, sie könnten sich bei kluger Gestaltung der Verträge sogar verbessern. Auch ließen sich darin finanzielle Anreize für freiwillige Transfers von nicht-patentierbaren von technischem und Management-Knowhow integrieren, soweit dieses für einen raschen Aufbau effizienter Impfstoff-Produktionsanlagen nötig ist.

Um diese Wende im Kampf gegen die Pandemie herbeizuführen, braucht es globale Führung. Mit Beginn des neuen Jahres hat Deutschland den Vorsitz der G7-Staaten und damit auch Verantwortung für eine weltweit Erfolg versprechende Strategie übernommen. Ein Rückfall in nationalistische Politik, wie in den ersten Monaten der Pandemie Anfang 2020, wäre die völlig falsche Reaktion auf Omikron. Genau das droht aber zu passieren. Um die von Experten prognostizierte Omikron-Welle frühzeitig auszubremsen, hat beispielsweise allein Deutschland bereits 80 Millionen BioNTech-Dosen nachbestellt und versucht zusätzlich, ungenutzte Impfstoffbestände in anderen EU-Ländern aufzukaufen – offenbar vor allem in Osteuropa, wo die Impfquoten besonders niedrig sind.

Dabei droht die größte Knappheit ärmeren Ländern außerhalb der EU, die beim Preis nicht mit den reichen mithalten können. Auch die von Anfang an viel zu geringen Impfstoff-Lieferungen an die COVAX-Initiative, die eine gerechte Versorgung ärmerer Länder erreichen wollte und dazu auf Impfstoffspenden aus reichen Ländern angewiesen ist, werden sich nun wohl noch weiter verzögern. Dem Virus wird so im globalen Süden weiterhin viel Raum gegeben, sich auszubreiten, zu mutieren und womöglich noch gefährlichere Varianten hervorzubringen. Beschleunigtes Boostern und Impfpflichten in reichen Ländern allein könnten sich als Pyrrhus-Sieg erweisen.

Prävention von Virusmutationen erst nehmen

Fluchtmutationen wie Omikron, die die Immunabwehr bereits Genesener und Geimpfter unterlaufen, entstehen ja nicht völlig zufällig. Sie haben vielmehr in Populationen mit vielen Ungeimpften, weitab von Herdenimmunität, die besten Chancen sich zu entwickeln, wenn sie dann auf eine hinreichend große Zahl Geimpfter treffen, in denen resistente Virusmutationen selektiert werden. Zur Prävention solcher Mutationen braucht es gleichmäßig hohe Impfquoten überall. Weltweit gleicher Zugang zu Impfstoffen ist daher nicht nur eine Frage globaler Gerechtigkeit sondern auch der Effizienz.

Um wirklich „vor die nächste Welle zu kommen“, wie es die neue Bundesregierung verspricht, muss sie den G7-Vorsitz dazu nutzen, beschleunigtes Impfen weltweit zu priorisieren. Ganz besonders in Afrika, wo die Impfquoten aktuell am niedrigsten sind. Selbst Mitarbeitende des Gesundheitswesens sind dort meist noch ungeimpft, von den Alten und anderen mit erhöhtem Risiko ganz zu schweigen. Die G7 sind prädestiniert, COVAX mit den notwendigen Geldern für den Kauf der vielversprechendsten Impfstoffpatente stark zu machen.

Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds würden 40 Prozent des auf 9 Billionen US-Dollar geschätzten Wachstumsschubs für die Weltwirtschaft, den eine weltweit erfolgreiche Impfkampagne auslösen würde, in reiche Länder fließen. Eine ausreichende finanzielle Unterstützung von COVAX wäre also im ureigensten Interesse der G7. Wenn für den Aufkauf der Patentrechte an den anerkannt wirksamsten Impfstoffen und eine starke Beschleunigung weltweiten Impfens eventuell bis zu 200 Milliarden US-Dollar in COVAX investiert werden müssten, wären das nur zwei bis drei Prozent des erwarteten Gewinns für die Weltwirtschaft. Eine auch nur annähernd vergleichbare Rendite auf öffentliche Investitionen ist zurzeit sonst nirgendwo zu bekommen.

Schon kurzfristig würden alle Länder von viel niedrigeren Kosten im weiteren Kampf gegen die Pandemie profitieren. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet unter aktuellen Patentbedingungen allein für ihren „Access to Covid-19 Tools-Accelerator“ zugunsten armer Länder bis September 2022 mit Ausgaben von 23,4 Milliarden US-Dollar – ein Betrag, von dem wohl bis zu einem Drittel eingespart werden könnte, wenn die Patentrechte im Besitz von COVAX lägen und Impfstoffe zu Preisen in Höhe der Grenzkosten von 1 Euro pro Dosis, oder sogar darunter, verfügbar würden. Alle Länder, auch die reichen, würden dann den größten Teil ihrer Impfstoffausgaben einsparen. Deutschland beispielsweise würde die aktuelle Neubestellung von 80 Millionen an Omikron angepassten BioNTech-Impfdosen im Vergleich zu dem zuvor von der EU gezahlten Preis etwa 1,4 bis 1,5 Milliarden Euro billiger bekommen. Wir hätten sozusagen eine globale „Flatrate“ bzw. einen niedrigen weltweiten Einheitspreis für Corona-Impfstoffe.

Anreizwirkung von Patentschutz nutzen und verbessern

Den Patentschutz entschädigungslos auszusetzen, wie es Indien, Südafrika und andere ärmere Länder, die US-Regierung von Joe Biden und auch einflussreiche Wissenschaftler wie der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz gefordert haben, wäre der falsche Weg. Patente spielen als Innovationsanreiz in der pharmazeutischen Industrie eine Schlüsselrolle; jetzt Einschränkungen anzukündigen, wäre ein riskantes Signal, das große Verunsicherung unter privaten Investoren auslösen könnte, auf die es auch im weiteren Kampf gegen die Pandemie und andere Infektionskrankheiten entscheidend ankommt. Eine rasche Impfstoff-Anpassung an Omikron und die Entwicklung neuer noch wirksamerer Impfstoffe ist ohne finanzielle Anreize für die forschenden Pharmaunternehmen ebenso wenig zu erwarten wie ein freiwilliger Technologietransfer zugunsten von Produzenten im globalen Süden.

Forderungen nach einem Aussetzen des Patentschutzes zielen auf Gerechtigkeit und ignorieren die Notwendigkeit von Effizienz. Dabei sind die bislang zweifellos unzureichenden finanziellen Anreize in patentgeschützten Monopolen, neu entwickelte Impfstoffe so schnell wie möglich auch ärmeren Ländern zugänglich zu machen, wahrscheinlich gar nicht in erster Linie auf eine zu große Preissetzungsmacht zurückzuführen. Das Abkommen über Trade-related Intellectual Property Rights (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO) ermöglicht ja bereits eine starke Preisdifferenzierung zwischen armen und reichen Ländern, indem es Parallelhandel – die vom Patentinhaber nicht autorisierten Importe aus Niedrigpreisländern in Hochpreisländer – verbietet und damit die Preissetzungsmacht der Patentinhaber und ihre finanziellen Gewinnchancen auf den profitablen Märkten der reichen Länder schützt. Auch heute schon können also Impfstoffhersteller auf Basis der WTO- Regeln Impfstoffe in armen Ländern verbilligt anbieten, ohne Gewinnchancen in profitablen Märkten zu verspielen.

Das Hauptproblem bei Corona-Impfstoffen scheint zu sein, dass die Patentinhaber nach dem Abschluss großvolumiger Lieferverträge mit den reichen Ländern – viele kamen bereits vor der Marktzulassung zustande – keinen ausreichenden Anreiz hatten, in so große Produktionskapazitäten zu investieren, wie sie für eine schnellstmögliche Lieferung nötig gewesen wären. Zur Steigerung ihres finanziellen Gewinns haben sie kleinere Produktionskapazitäten gebaut und so ihren Investitionsaufwand gesenkt – dabei in Kauf nehmend, die bereits vereinbarten und weitere Lieferungen über einen längeren Zeitraum zu strecken. Ziel war, kleinere Anlagen über einen längeren Zeitraum gleichmäßig auszulasten, statt sehr große zu errichten, die nach kurzer Produktionszeit in der Größe nicht mehr gebraucht werden. Während also die Politik Lockdowns verordnete, um die Kurve der Neuinfektionen flach und Hospitalisierungen im Rahmen knapper Krankenhauskapazitäten niedrig zu halten, priorisierten die privaten Impfstoffhersteller ihrerseits relativ kleine Kapazitäten, um ihren Investitionsaufwand niedrig zu halten – weltweit hohe Impfquoten sind so nicht zügig erreichbar.

Impferfolge finanziell belohnen

Die Freigabe der von COVAX aufgekauften Patente wird diese Kapazitätsengpässe beseitigen. Wenn dann ein elastisches Impfstoffangebot für alle Länder steht, sollte COVAX zusätzlich technische und logistische Unterstützung bei der Durchführung nationaler Impfkampagnen und finanzielle Anreize für das Erreichen hoher Impfquoten in ärmeren Ländern anbieten. Damit ließe sich der in diesen Ländern oft grassierenden Korruption begegnen, die die Wirksamkeit öffentlicher Gesundheitsprogramme vielfach untergräbt.

Korruption könnte ein Grund dafür sein, dass viele Länder Afrikas bislang nur einen Bruchteil der gelieferten Impfdosen tatsächlich verimpft haben. Ländern mit solchen Schwierigkeiten könnte COVAX zum Beispiel versprechen, sie mit einem vorab festgelegten Betrag – etwa in Höhe von einem Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes – zu belohnen, wenn sie in einem vorab festgelegten, relativ kurzen Zeitraum eine den weiteren Pandemieverlauf deutlich bremsende Impfquote – etwa 95% der erwachsenen Bevölkerung – erreicht haben. Das müsste natürlich unabhängig verifiziert werden, Experten der Weltgesundheitsorganisation könnten das leisten.

Deutschland wird häufig vorgeworfen, global wenig Führungsstärke zu zeigen. Gelänge es, während des G7-Vorsitzes einen neuen internationalen Umgang mit Impfstoffpatenten zu initiieren, könnte die Bundesregierung diesen Vorwurf kontern.

(Eine gekürzte Version dieses Textes ist am 19. Januar 2022 im „Handelsblatt“ erschienen.)


Coverfoto: © European Parliament

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.

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