Wirtschaftspolitischer Beitrag

Deutschland muss eine geoökonomische Strategie entwickeln

Autoren

  • Katrin Kamin
  • Rolf J. Langhammer
Erscheinungsdatum

Im Notfall sei auch „militärischer Einsatz notwendig (...), um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“. Am 31. Mai 2010 begründete der damalige Bundespräsident Horst Köhler seinen Rücktritt mit der heftigen Kritik in der Öffentlichkeit an dieser in einem Hörfunkinterview gemachten Aussage. Würde sie heute im Angesicht des Überfalls Russlands auf die Ukraine fallen, würde sie vermutlich nicht mehr kritisiert werden.

Der Überfall fordert die regelbasierte multilaterale Ordnung für Europa und auch darüber hinaus in einer in der Nachkriegszeit noch nicht erlebten Weise heraus. Ein tiefes Zerwürfnis zwischen Russland und dem Rest der Welt ist entstanden, wobei nicht klar ist, ob China durch Stützung der geschockten russischen Wirtschaft dieses noch weiter vertiefen wird. 

Doch bereits vor dem Krieg in der Ukraine hat sich abgezeichnet, dass die Welt keineswegs mehr so flach und frei war, wie sie der amerikanische Publizist Thomas Friedman noch 2005 in seinem Buch „The World is Flat“ als Folge digital verfügbarer Daten an jedem Ort der Welt mit der Konsequenz eines globalen Arbeitsmarktes vorhersagte. Stattdessen ist sie unebener und unfreier geworden.

So sind Gütermärkte durch Importzölle, Exportbarrieren und andere Hindernisse getrennt worden, die es noch vor zwei Dekaden nicht gegeben hat. Autokratische und populistische Regime erfreuen sich immer stärkerer Zustimmung und grenzen sich explizit von westlichen Demokratien ab. Laut dem jüngsten Bertelsmann Transformation Index gibt es seit 2021 erstmals mehr Autokratien als Demokratien auf der Welt. Letztere wappnen sich und entwerfen Maßnahmen gegen wirtschaftliche Erpressbarkeit. So arbeitet die EU an einem „anti-coercion instrument“ zur Abwehr wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen seitens anderer Länder gegen einzelne EU-Mitglieder, sollte der internationale Rechtsweg bei Streitfällen erschöpft sein. Deutschland entwirft ein Programm für nationale Reserven für energetische Rohstoffe. 

Die politischen Klüfte zwischen China und dem Westen behindern den globalen Technologietransfer in der Informationsindustrie. Globale Lieferketten werden sowohl auf ihre Haltbarkeit gegenüber politischen Konflikten als auch auf ihre Vereinbarkeit mit sozialen und ökologischen Vorstellungen der Industrieländer hin überprüft und gegebenenfalls verkürzt. Viele Länder verlangen, dass Unternehmen weniger an sie liefern als vielmehr bei ihnen investieren, um damit den dortigen politischen Vorgaben zu folgen. Und sogar Flüchtlingsströme werden für politische Zwecke wie im Fall von Belarus und der Türkei instrumentalisiert.

Nationale Interessen verdrängen Win-win-Situationen

Somit sind seit 2010 an die Stelle des Vertrauens in offene wirtschaftliche und politische Märkte und Win-win-Szenarien nationale wirtschaftliche Interessen und die Sicherung dieser mit geoökonomischen Mitteln gerückt. Der russische Überfall hat jetzt die Suche nach Absicherung kulminieren lassen. Absicherung findet zum einen durch klassische Außenwirtschaftspolitik in Form von Handels- und Investitionsabkommen und strategischer Außenwirtschaftsförderung statt. Zum anderen werden zunehmend ökonomische Maßnahmen zur Durchsetzung (außen)politischer Ziele ergriffen. So hat die Zahl der verhängten Sanktionen im vergangenen Jahrzehnt stark zugenommen. Strategische Investitionen, wie im Rahmen der Neuen Seidenstraßen-Initiative Chinas, aber auch die Kontrolle über Währungsreserven und Handelsüberschüsse sind vermehrt zu beobachten. Dabei beschränken sich geoökonomische Mittel mitnichten nur auf die Handelspolitik, sondern erstrecken sich auf Technologie- und Investitionspolitik, Finanz- und Währungspolitik sowie Energie- und Rohstoffpolitik.

China versteht es wie derzeit kein anderes Land, geoökonomische Mittel einzusetzen

Diese Politisierung der Ökonomie und Ökonomisierung der Politik sorgt nicht nur für eine zunehmende Verflechtung von Außenwirtschaftspolitik und Außenpolitik, sondern auch für eine Verschränkung der oben genannten Politikfelder untereinander sowie nach innen und nach außen. Handelsabkommen werden beispielsweise immer mehr zur Adressierung von Themen, welche nicht originär Handelsthemen sind, wie z.B. Umwelt- und Sozialstandards, herangezogen.

Nun sind geoökonomische Mittel kein Novum, sondern wurden von Staaten schon lange verwendet, um Interessen durchzusetzen. Warum also gewinnt die Geoökonomie jetzt gerade an Bedeutung? Der Aufstieg Chinas und anderer globaler Player bei einem gleichzeitigen Rückzug der USA von der weltpolitischen Bühne ist ein wichtiger Faktor. China versteht es wie derzeit kein anderes Land, geoökonomische Mittel einzusetzen. Darüber hinaus zeigten sich in den vergangenen Jahren schwere Entscheidungsdefizite der WTO und Umsetzungsschwächen multilateraler Institutionen zusammen mit einer Verschiebung hin zu einer machtbasierten Weltordnung. Ein weiterer Faktor sind die durch die Globalisierung geschaffenen Abhängigkeiten. Die dadurch entstehenden Möglichkeiten, wirtschaftlichen Zwang auszuüben, werden zunehmend militärischen Interventionen und Auseinandersetzungen vorgezogen. Das sieht man unter anderem auch an der in den vergangenen dreißig Jahren auf ein Minimum reduzierten Anzahl zwischenstaatlicher Konflikte.

In der Geoökonomie wird ökonomische Macht zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen unabdingbar. Ausgangspunkt sind bestehende Angebots- und Nachfragestrukturen und komparative Vorteile eines Landes. Des Weiteren spielen die erwarteten Veränderungen in der Zukunft eine Rolle. Wichtige Punkte sind die Abhängigkeit von importierten Ressourcen und Produkten, die Sicherheit von Handelsrouten, auf denen diese transportiert werden, und die politische Stabilität der Regionen, die für ein Land als Ziel- oder Beschaffungsmärkte wichtig sind. Daraus ergeben sich sechs Faktoren, die für Deutschland von geoökonomischer Bedeutung sind.

Deutschlands Wohlstand hängt an richtiger Geostrategie

Erstens, Deutschland ist ein exportorientiertes, auf den Verarbeitenden Sektor fokussiertes Land. Diese Struktur wird weiterhin ein Grundstock des deutschen Wohlstands sein. Die Grundlagen dieser Struktur zu bewahren, ist daher Teil des geoökonomischen Interesses Deutschlands. Der bekannten Kritik von EU-Partnerländern, die Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft wäre gleichbedeutend mit dem Export von Arbeitslosigkeit in ihre Länder, kann mit dem Faktum begegnet werden, dass seit Jahren etwa 40 Prozent der deutschen Exporte aus importierten Vorleistungen, überwiegend aus dem EU-Binnenmarkt, bestehen und somit wesentlich zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Gütern aus den Partnerstaaten beitragen.

Zweitens, Deutschland hat Wachstumsmärkte in Schwellenländern stärker erschlossen als andere Länder und damit eine Abhängigkeit von politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in diesen Ländern geschaffen. Den Erfolg auf diesen Märkten zu verteidigen, ist für Deutschlands Wohlstand wichtig. Er impliziert zugleich die Notwendigkeit, wirtschaftlich offen gegenüber diesen Märkten zu bleiben, und die Einsicht, ihre häufig autokratischen politischen Strukturen nicht durch den Handel beeinflussen zu können. Eine besondere Herausforderung für die Zukunft wird darin liegen, dass auch diese Länder ihre Weltmarktorientierung unter geoökonomischen Gesichtspunkten überdenken und deutsche Unternehmen auffordern, zukünftig mehr bei ihnen zu investieren als dorthin zu exportieren. Damit wächst die Gefahr, die Kontrolle über unternehmenseigenes technisches Wissen an einheimische Unternehmen schneller als über den Handel zu verlieren.

Drittens, eine stärkere Abhängigkeit besteht auch beim Zugang zu fossilen energetischen Ressourcen, nachdem Importe von Gas aus Russland in der Vergangenheit durch den Bau der beiden Ostseeleitungen verstetigt wurden. Deutschland hat sich im Vertrauen auf die „flache Welt“ und auf die Trennbarkeit von Politik und Geschäft in eine massive Abhängigkeit von Russland begeben. Das Ausmaß der Probleme, die eine wirtschaftliche Interdependenz mit einem autokratischen und militärisch aggressiven Staat mit sich bringt, ist durch den Überfall schlagartig deutlich geworden. Nun wird händeringend versucht, den schmalen Grat zwischen der Loslösung von Russland in Energiefragen und Vermeidung von daraus folgenden Einschnitten für Produktion und Wohlfahrt in sehr kurzer Zeit zu finden und ihm zu folgen.

Deutschland importiert, statt zu investieren

Viertens, Deutschland hat in der Vergangenheit den Zugang zu wichtigen Rohstoffen anders als andere Industrieländer durch Käufe auf dem Weltmarkt, nicht aber durch eigene Direktinvestitionen im Rohstoffsektor gesichert. 2019 waren knapp 92 Prozent der deutschen Direktinvestitionen im Verarbeitenden Sektor und im Dienstleistungsbereich beheimatet und 2 Prozent in der Energieversorgung. Der Bergbausektor spielte damit eine weitaus geringere Rolle als Zielsektor von Auslandsinvestitionen als in anderen Ländern. Die Strategie, Rohstoffe zu kaufen anstatt in ihre Lagerstätten zu investieren, war in der Vergangenheit erfolgreich, da damit das Risiko eines Termingeschäfts vermieden werden konnte, d.h. im Falle zukünftig sinkender Rohstoffpreise in der Gegenwart zu teuer zu investieren. Die Diskussion um ein Energieembargo, aber auch die Abhängigkeit von bestimmten, für die Industrie und ihre ökologische Transformation  wichtigen „grünen“ Metallen aus Russland, wie beispielsweise Nickel oder Kobalt, hat im Lichte des aktuellen Krieges nun eine Diskussion um Vorratshaltung solcher strategischer Inputs entfacht. In Ansätzen hat im Rohstoffbereich in den vergangenen Jahren bereits ein Umdenken stattgefunden: Deutschland hat sich von der Internationalen Meeresbodenbehörde zwei von dreißig Lizenzen für die Erkundung von Rohstoffvorkommen auf dem Meeresboden im östlichen Pazifik und im südwestlichen Indischen Ozean ausstellen lassen.

Fünftens dominierten auch beim wichtigsten strategischen Gut außerhalb der Rohstoffbranche, den Halbleitern und Mikrochips, bislang Käufe vor Direktinvestitionen. Hier stößt ein Nachfrageboom, der nicht allein der post-COVID-Erholung geschuldet ist, sondern auch die jetzt stark einsetzende Digitalisierung und den Strukturwandel im Verarbeitenden Sektor widerspiegelt, auf unterbrochene Lieferketten und Angebotsengpässe. Hinzu kommen zunehmende politische Kontroversen um Technologieabhängigkeit von wenigen asiatischen und amerikanischen Anbietern. Daher soll mehr als in der Vergangenheit auf europäische Anbieter gesetzt werden, um den Absturz des europäischen Anteils an der weltweiten Halbleiterproduktion von 30 Prozent im Jahre 1990 auf derzeit unter 10 Prozent aufzuhalten und eine Zielgröße von 20 Prozent im Jahre 2030 zu realisieren. Dazu werden von deutscher Seite rund 3 Mrd. € als Fördermittel in das europäische Gemeinschaftsprojekt IPCEI (Important Projects of Common European Interest) eingebracht. Nichtsdestotrotz ist in der Kurz- und Mittelfrist nicht damit zu rechnen, dass aus dem EU-Binnenmarkt heraus der europäische Bedarf an Mikrochips oder an für die Produktion notwendigen Vor- und Zwischenprodukten gedeckt werden kann.

Sechstens ist die Absicherung von wichtigen Handelswegen wesentlich breiter zu verstehen als nur die Bekämpfung von Piraterie wie am Horn von Afrika durch eigene militärische Einsätze oder über den Verkauf militärischer Güter zum Schutz der Handelswege an betroffene Länder. Bei Piraterie findet sich schnell ein Bündnis von allen Handelspartnern mit gleich gelagerten Interessen. Deutschlands sehr begrenzte militärische Kapazitäten und auch eine vor dem russischen Überfall latent in der deutschen Öffentlichkeit vorhandene Abneigung gegen robuste militärische Präsenz lassen sich nicht kurzfristig verändern. Umso wichtiger ist es zu verhindern, dass einzelne Länder technologische Vorsprünge in der digitalen Abwicklung des internationalen Handels aufbauen und den Technologietransfer blockieren. So könnte China mit seinem Konzept der „digitalen“ Seidenstraße die sehr energieintensive Blockchain-Technologie in der administrativen und finanziellen Abwicklung des globalen Handels über See unter anderem dank niedriger Energiekosten, aber auch dank hoher eigener Investitionen in das Know-how dominieren. Wenn es dann zusätzlich, wie in Hamburg beim Erwerb von Anteilen am Terminal Tollerort geschehen, Anteile in der landgebundenen Infrastruktur erwirbt, könnte China die gesamte virtuelle Lieferkette der Dienstleistungen im Seehandel kontrollieren. Eine Reziprozität dahingehend, dass sich deutsche Anbieter von Hafeninfrastruktur an Terminals in chinesischen Häfen beteiligen, ist bisher nicht vorgesehen.

Diese sechs Faktoren diagnostizieren Deutschlands Abhängigkeiten von räumlich klar abgrenzbaren Absatz- und Beschaffungsmärkten und von angebotenen oder nachgefragten Gütern, von Transportwegen und – wichtig – von den Rahmenbedingungen, die die politischen Führungen dieser Räume setzen.

Deutschland muss EU-Binnenmarkt stärken

Aus dieser Ausgangslage lassen sich drei Schlussfolgerungen für eine künftige geoökonomische Strategie Deutschlands ziehen.

Erstens muss sich Deutschland bewusst werden, dass es nur mit der EU als Wirtschaftsblock eine Machtposition aufbauen kann. Das bedeutet zum einen, dass sich Deutschland aktiv um die Stärkung der EU und der für eine geoökonomisch handlungsfähige EU notwendigen Institutionen bemühen muss. Dabei sollte ein besonderes Augenmerk auf der Stärkung des Binnenmarktes und einer Anpassung der gemeinsamen Außenwirtschafts- sowie Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der fortschreitenden Verflechtung dieser Politikfelder liegen. Die geoökonomische Macht der EU hängt deshalb stark vom Binnenmarkt ab, weil dieser bereits das erfolgreichste geoökonomische Instrument der EU ist: Handelspartner passen ihre Standards an EU-Regularien an, um mit ihr Handel treiben zu können. Diesen „Brussels Effect“ gilt es zu bewahren und durch einen weiteren Abbau von Handelsbarrieren im Binnenmarkt zu stärken. Was die EU-Institutionen betrifft, so macht das Einstimmigkeitsprinzip sowie die vorherrschende silo-artige Bearbeitung der Politikfelder die EU zu einem eher zahnlosen geoökonomischen Tiger. Um dem EU-Vorsatz der strategischen Autonomie und dem bestimmteren Auftreten in geopolitischen Fragen nachzukommen, muss sich Deutschland für Reformen in beiden Punkten einsetzen. Zum anderen bedeutet dies, darauf hinzuarbeiten, dass auch die anderen EU-Mitglieder ihre geoökonomischen Interessen definieren, und dann zu versuchen, sich diesen so weit wie möglich anzunähern. Dafür sollte Deutschland nicht allein politische Überzeugungsarbeit leisten, sondern auch nennenswerte finanzielle Mittel in die Hand nehmen, um die EU-Partner bei deren Vorhaben zur Durchsetzung geoökonomischer Interessen zu unterstützen. Der Überfall Russlands hat zu einer Konvergenz der geostrategischen Interessen Deutschlands und seiner EU-Partner geführt. Nichtsdestotrotz ist aber mit den Reaktionen auf Deutschlands Zögern bei Waffenlieferungen sowie einem Öl- und/oder Gasembargo auch zweierlei deutlich geworden: Zum einen, welch wichtige Rolle Deutschland in Europa hat, und zum anderen, welch Augenmerk damit auf Deutschland liegt. Beides ist verbunden mit der Übernahme von Verantwortung als welt- und geopolitischer Akteur. Bisher bleibt aber unklar, ob Deutschland diese Verantwortung übernehmen möchte.

Zweitens geht es darum, den Zugang zu und die Kontrolle über wichtige Ressourcen und Zwischenprodukte, die Sicherung von Handelsrouten und den Einfluss auf die Stabilität von ökonomisch wichtigen Partnern zu konkretisieren und zusammenzuführen. Außerdem gilt es, Vulnerabilitäten wie etwa durch die Abhängigkeit von russischen Energieimporten, zu verringern. Alle diese Kriterien treffen aus deutscher Sicht für die europäischen Partner im Mittelmeerraum zu. Was die Ressourcen anbelangt, so wird unter umweltpolitischen Gesichtspunkten und angesichts der Transformation der Wirtschaft in Richtung Dekarbonisierung der Bedarf an grünem Strom erheblich ansteigen. Deutschlands Kapazitäten in der Windenergie werden dafür wahrscheinlich nicht ausreichen, und so würde Deutschland ein Nettoimporteur von grünem Strom, den der Mittelmeerraum, bestehend aus EU- und Nicht-EU-Ländern, durch den Ausbau der Kapazitäten für Solarenergie bereitstellen kann. In kurzer Sicht liegen im Mittelmeerraum wichtige Zugänge zum Flüssiggasangebot, das begrenzte Alternativen zu russischem Gas bietet.

Sicherung von Handelsrouten

Die Sicherung von Handelsrouten steht für Deutschland unter verschiedenen Zielen. Zum einen sollen Flaschenhälse wie im Suezkanal vermieden werden. Zum anderen muss die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Häfen gegenüber der Konkurrenz der Mittelmeerhäfen gesichert werden, die durch den Ausbau der Tunnelwege durch die Alpen und der Investitionen Chinas in die Infrastruktur der Mittelmeerhäfen logistische Vorteile gewinnen könnten. Über allem steht die wirtschaftliche Stabilisierung des Mittelmeerraums, ohne die langfristige Investitionen aus Unsicherheitsgründen nicht getätigt werden. Die geoökonomischen Interessen verlangen nichts weniger als eine völlige Neuausrichtung der bisherigen EU-Mittelmeerpolitik. Die bisherigen Abkommen mit Maghreb- und Maschrek-Staaten erfüllen diese Voraussetzungen ebenso wenig wie die stockenden Verhandlungen mit der Türkei über den Ausbau der Zollunion, sind sie doch auf enge handelspolitische Ziele begrenzt. Mehr als einen Vorschlag der EU-Kommission zu einer neuen strategischen Partnerschaft mit den Mittelmeerländern  (Februar 2021) gab es bisher nicht. Das Reizwort „geoökonomische Ziele“ wird bewusst in allen Verlautbarungen verschwiegen. Gleichzeitig ist der Mittelmeerraum Ausgangspunkt und Durchgangsregion zugleich für die Wanderung von Menschen, die sowohl krisen-als auch wirtschaftsgetrieben in der EU, vor allem aber in Deutschland, ihren künftigen Lebensmittelpunkt sehen. Diese Wanderung ist Risiko wie Chance zugleich für die alternden Volkswirtschaften wie Deutschland und muss daher zusammen mit den südlichen EU-Mitgliedern, die hier ähnliche Interessen wie Deutschland haben, aber auch mit Nichtmitgliedern wie der Türkei im Osten oder Marokko im Westen des Mittelmeers geordnet und bewältigt werden.

Drittens muss die europäische Konzentration auf geoökonomischen Interessen im Mittelmeerraum als sinnvolles Komplement und nicht in Konkurrenz zur verstärkten militärischen Kooperation zwischen den USA, dem Vereinigten Königreich und Australien im Pazifikraum gesehen werden. In diesem Raum liegen zwar auch deutsche Interessen, aber weder werden sie dort von allen EU-Partnern so geteilt wie im Mittelmeerraum, noch sind sie dort so breit auf den verschiedenen Feldern vom Handel über die Arbeitskräftewanderung und dem Kampf gegen den Klimawandel vertreten. Deutschland muss seine Mittel auf den Raum konzentrieren, in dem seine drängendsten geoökonomischen Interessen liegen. Aktivitäten anderer Partner in anderen Räumen können die Durchsetzung dieser Interessen erleichtern, aber nicht ersetzen.

Eine Studie des European Council on Foreign Relations (ECFR) aus dem Jahr 2021 zeigte, dass Europäer Deutschland zwar Vertrauen schenken, wenn es um Wirtschaftspolitik und die Wahrung von demokratischen Werten geht, jedoch nicht beim Powerplay in internationalen Beziehungen. In den vergangenen Wochen hat sich jedoch abermals gezeigt, dass Wirtschaftspolitik und internationale Beziehungen eng miteinander verflochten sind. Gerade wenn es um diese geoökonomischen Fragen geht, muss Deutschland an Glaubwürdigkeit gewinnen. Die Bewusstwerdung über deutsche geoökonomische Interessen dient dabei nicht nur dem Selbstzweck, sondern vor allem auch der Stärkung der Machtposition der EU.

Der Beitrag ist eine umfangreichere und aktualisierte Version eines Gastkommentars, der am 29.10.2021 unter dem Titel „Die geoökonomische Leerstelle füllen“ in der Rubrik „Ordnung der Wirtschaft“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.


In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Kiel Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft wider.