Wirtschaftspolitischer Beitrag

Impfpflicht kann Vertrauen in Sicherheit und Effektivität von Impfungen schmälern

Autor

  • Ulrich Schmidt
Erscheinungsdatum

Befürworter eine Impfpflicht sehen sie als geeignetes Mittel zur Erhöhung der Impfquoten in der Bevölkerung. Studien zeigen aber, dass eine Pflicht diese Wirkung nicht notwendigerweise entfaltet. Es kann sogar zu weniger Impfungen kommen.

Experte IfW Kiel

Am 14. November 2019 hat der Deutsche Bundestag eine Impfpflicht für Masern beschlossen. Die Impfpflicht gilt für Kinder und Personal in Kindertagesstätten und Schulen, für Tagesmütter sowie für Bewohner und Mitarbeiter von Flüchtlingsunterkünften und Gesundheitseinrichtungen. Gemäß Daten der WHO sind in Deutschland 92% der Kinder vollständig gegen Masern geimpft, während 97% die erste von zwei Impfdosen erhalten haben. Ziel der Impfpflicht ist es, die Quote der vollständig geimpften Personen auf über 95% ansteigen zu lassen, da dieser Wert als notwendig für eine sogenannte Herdenimmunität angesehen wird.

Auf den ersten Blick erscheint es plausibel, dass die Einführung einer Impfpflicht zu einer Erhöhung der Impfquote führt. Gerade bei Eltern, die keine Vorbehalte gegenüber Impfungen haben und die Impfung einfach vergessen, sollte die Impfpflicht die intendierte Wirkung haben. Trotz dieses offensichtlichen Effektes zeigen verschiedene Studien, dass kein empirischer Zusammenhang zwischen Impfpflicht und Impfquoten existiert. So kommt die von der EU finanzierte Asset-Studie (Asset, 2016) zu dem Schluss, dass ihre vorgenommene empirische Analyse „cannot confirm any relationship between mandatory vaccination and rates of childhood immunization in the EU/EEA countries“. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Studie des Sabin Vaccine Institute (2018), siehe auch Miller (2015).

Theorie der Reaktanz erklärt Impfverweigerung

Auch wenn der fehlende empirische Zusammenhang zwischen Impfpflicht und Impfquoten überraschend ist, gibt es mit dem Konzept der Reaktanz eine etablierte psychologische Erklärung dafür, warum Pflichten und Verbote häufig ihr Ziel verfehlen. Die Theorie der Reaktanz wurde von Brehm (1966) entwickelt und besagt, dass Freiheiten, die einer Person genommen werden, danach als besonders wichtig erachtet werden und daher eine Tendenz besteht, die verbotenen Handlungen nun erst rechtdurchzuführen. Bezogen auf die Impfpflicht würde reaktantes Verhalten daher implizieren, dass die Risiken (Nutzen) der Impfung aufgrund der Impfpflicht nun höher (geringer) wahrgenommen werden und manche Personen, die sich ohne Impfpflicht für eine Impfung entschieden hätten, nun versuchen die Impfung zu umgehen. Reaktanz ist somit eine plausible Erklärung für den fehlenden empirischen Zusammenhang zwischen Impfpflicht und Impfquoten.

Im Folgenden möchte ich zeigen, dass sich reaktantes Verhalten in den Ländern mit Impfpflicht tatsächlich beobachten lässt. Dazu werden Daten des Reports für die Europäische Kommission von Larson u.a. (2018) verwendet. Der Report basiert auf repräsentativen Umfragen in allen 28 EU-Staaten zum Vertrauen in die Sicherheit und Effektivität von Impfungen mit insgesamt 2782 Befragten. Bezogen auf Impfungen allgemein und die MMR-Impfung (Masern, Mumps und Röteln) konnten die Befragten den Aussagen in der ersten Zeile der untenstehenden Tabelle entweder zustimmen oder diese ablehnen. Dabei gab es fünf Antwortmöglichkeiten: „stimme voll zu“, „stimme eher zu“, „weiß nicht“, „stimme eher nicht zu“, „stimme keinesfalls zu“. Die Werte in der Tabelle geben den prozentualen Anteil der Befragten an, die der jeweiligen Aussage zugestimmt haben, also mit „stimme voll zu“ oder „stimme eher zu“ geantwortet haben.

Mit Hilfe der Tabelle lassen sich die Zustimmungsraten in Deutschland mit den Durchschnittswerten in allen EU-Ländern mit sowie ohne Impfpflicht vergleichen. Es zeigt sich, dass in Deutschland die Zustimmungsraten bei allen Fragen höher als in den Ländern mit Impfpflicht sind. Dasselbe gilt für den Vergleich der Länder ohne Impfpflicht mit denen mit Impfpflicht: In Ländern mit Impfpflicht wird die Sicherheit und Effektivität von Impfungen kritischer gesehen. Die letzte Zeile der Tabelle zeigt, dass dieser Zusammenhang gemäß den durchgeführten t-Tests statistisch signifikant ist. Bei allen Aussagen bis auf die erste kann die Hypothese, dass die Zustimmungsraten in beiden Ländergruppen gleich sind, auf einem 5-prozentigen Signifikanzniveau zugunsten der alternativen Hypothese, dass die Zustimmungsraten in Ländern ohne Impfpflicht höher sind, verworfen werden.

Die Ergebnisse sind somit konsistent mit dem Konzept der Reaktanz, da die Impfpflicht tatsächlich mit einem geringeren Vertrauen in die Sicherheit und Effektivität von Impfungen assoziiert ist. Auch wenn die vorliegende Analyse keine Kausalität beweisen kann, ist es dennoch naheliegend, dass die Reaktanz ein wichtiger Grund für den fehlenden empirischen Zusammenhang zwischen Impfpflicht und Impfquoten angesehen werden kann. Daher erscheint die Einführung einer Impfpflicht zur Erhöhung der Impfquoten als zweischneidiges Schwert: Während bei Personenkreisen, die die Impfung vergessen oder aus Bequemlichkeit unterlassen, eine Erhöhung der Durchimpfungsraten zu erwarten ist, kann die Impfpflicht durch Reaktanz Zweifel an der Nützlichkeit von Impfungen hervorrufen oder verstärken. Somit ist es durchaus möglich, dass die Einführung einer Impfpflicht ihr Ziel verfehlt und sogar eine gegenteilige Wirkung hat.

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Literatur

Asset (2016), Compulsory vaccination and rates  of coverage immunisation in Europe, http://www.asset-scienceinsociety.eu/reports/pdf/asset_dataviz_I.pdf.

Brehm, J.W. (1966), Theory of psychological reactance, New York, Academic Press.

Larson, H., de Figueiredo, A., Karafillakis, E., & Rawal, M. (2018), State of vaccine confidence in the EU 2018. Luxembourg: Publications Office of the European Union. https://ec. europa. eu/health/sites/health/files/vaccination/docs/2018_vaccine_confidence_en. pdf.

Miller, E. (2015), Controversies and challenges of vaccination: an interview with Elizabeth Miller. BMC medicine 13.1, 267.

Sabin Vaccine Institute (2018), Legislative Approaches to Immunization Across the European Region. https://www.sabin.org/updates/blog/legislative-approaches-immunization-across-european-region.


Coverfoto: © European Union 2021 

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.

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