Wirtschaftspolitischer Beitrag

Deutschland sollte neues Türkei-Abkommen offensiv vorantreiben

Autoren

  • Gabriel Felbermayr
  • Matthias Lücke
Erscheinungsdatum

Nicht nur aus ökonomischen Gründen ist es sinnvoll, die Aufnahme von Flüchtlingen in der Türkei zu finanzieren.

Experte IfW Kiel

Doch auf EU-Ebene und auch in Deutschland ist das Thema offenbar nicht auf der Tagesordnung. Sollte dies so bleiben, besteht ein hohes Risiko, dass erneut tausende Menschen ungesteuert die Flucht in Richtung Mitteleuropa antreten.

Schon jetzt schultert die Türkei durch die wachsende Zahl von syrischen Kriegsflüchtlingen eine große Last: 4,1 Millionen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten leben im Land, darunter 3,7 Millionen aus Syrien. In der Provinz Idlib treiben Bombardements der syrischen Armee und der russischen Luftwaffe gerade mehr als eine halbe Million Menschen in die Flucht in Richtung der – für sie geschlossenen – Grenze zur Türkei. Diese Situation wird nicht dauerhaft haltbar sein.

Nicht nur diese Menschen werden jahrelang Hilfe benötigen. Auch die Versorgung, Unterbringung und öffentliche Dienstleistungen für jetzt schon in der Türkei lebende Flüchtlinge verursachen weiter hohe Kosten: Nach eigenen Angaben gibt die Türkei etwa 3.000 Euro pro Jahr und Person aus. Das ist zwar deutlich weniger als in Deutschland, wo für die Versorgung eines Flüchtlings nach Schätzungen im Durchschnitt mindestens 10.000 € anfallen. Aber aufgrund der Zahl der geflüchteten Menschen im Land summieren sich die Kosten für die Türkei auf insgesamt über 10 Milliarden Euro pro Jahr.

Unterstützung weiterhin erforderlich

Dank des EU-Türkei-Übereinkommens vom März 2016 haben die EU-Mitglieder die Türkei vier Jahre lang mit insgesamt 6 Milliarden Euro unterstützt, damit sie syrische Kriegsflüchtlinge aufnimmt und versorgt. Diese Mittel laufen jetzt aus. Im Gegenzug hat es die Türkei bisher weitgehend unterbunden, dass Flüchtlingen irregulär nach Griechenland und weiter nach Mittel- und Nordeuropa wandern. Damit hat sie wesentlich dazu beigetragen, dass seit 2016 viel weniger irregulär Zuwandernde die EU erreichen als im Jahr 2015. Doch schon 2019 hat sich die Zahl derer, die über die Ägäis nach Griechenland flüchten, im Vergleich zu 2018 und 2017 in etwa verdoppelt.

Nicht alle Elemente des EU-Türkei-Übereinkommens haben gut funktioniert. So klappte etwa die Rückkehr abgelehnter Asylsuchender von den griechischen Inseln in die Türkei oder die Umsiedlung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus der Türkei direkt in die EU nicht. Von der im Abkommen in Aussicht gestellten Visafreiheit für türkische Staatsangehörige in der EU und schnelleren EU-Beitrittsverhandlungen ist die EU wegen der politischen Entwicklungen in der Türkei abgerückt. Die Basis für diese Zugeständnisse erodierte durch zunehmende Menschenrechtsverletzungen in der Türkei seit dem fehlgeschlagenen Staatsstreich im Juli 2016, durch Militäreinsätze in kurdischen Gebieten in der Türkei und Syrien und problematische außenpolitische Initiativen wie das türkische Engagement in Libyen. Dennoch sollten die EU und insbesondere Deutschland die Türkei bei der Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge nicht allein lassen. Die Türkei ist mittlerweile weltweit das Land mit den meisten Flüchtlingen. Auch wenn der Aufenthalt der Flüchtlinge offiziell zeitlich befristet ist, sind in der Praxis viele von ihnen sozial und wirtschaftlich mittlerweile integriert. Nur wenige leben in Lagern, die meisten Kinder besuchen staatliche Schulen und alle registrierten Flüchtlinge haben (von der EU bezuschusst) Zugang zum staatlichen Gesundheitsdienst. Firmen mit syrischen Eigentümern beschäftigen viele Flüchtlinge und Einheimische; immer mehr erhalten Arbeitsgenehmigungen und sind damit nicht mehr ausschließlich auf Arbeit in der Schattenwirtschaft angewiesen. Es ist daher nicht nur im Sinne einer fairen Verantwortungsteilung für den Schutz von Flüchtlingen, sondern auch zum eigenen Nutzen der EU, wenn sie als reiche Nachbarregion die Türkei nachhaltig in dieser speziellen Lage finanziell unterstützt. Deshalb muss sie nicht die Augen vor den politisch problematischen Entwicklungen in der Türkei verschließen.

Migration reduzieren

Mit einem neuen Abkommen würde das Risiko sinken, dass sich erneut ungesteuert tausende Menschen auf den Weg nach Mitteleuropa machen. Schon jetzt nimmt die Zahl von irregulären Migranten auf den griechischen Inseln zu und ihre Lage ist oft prekär. Sollte sich nun auch die Situation der Flüchtlinge in der Türkei verschlechtern und sollten die türkischen Sicherheitskräfte die Bekämpfung des Menschenschmuggels zurückfahren, wäre das griechische Asyl- und Aufnahmesystem rasch überfordert. Eine unkontrollierte Weiterwanderung Asylsuchender in Richtung Mitteleuropa wäre wahrscheinlich.

Schon aus ökonomischen Gründen ist es sinnvoll, die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten in der Türkei zu finanzieren und nicht in Mitteleuropa, wo die Kosten um ein Mehrfaches höher liegen. Selbst wenn Deutschland allein jährlich einen nennenswerten einstelligen Milliardenbetrag bezahlen würde, damit viele Flüchtlinge in der Türkei in Würde leben können, wäre das viel billiger, als (vergleichsweise) wenige Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Hier sind die Kosten pro Kopf mindestens dreimal so hoch. Bei einer erneuten ungesteuerten Wanderungsbewegung wäre Deutschland ein wichtiges Zielland. Deutschland sollte daher besonders auf ein Übereinkommen mit der Türkei hinwirken und sich finanziell umfassend beteiligen.

Anders als 2016 kann die EU heute keine besseren bilateralen Beziehungen mehr in Aussicht stellen, etwa durch eine Visaliberalisierung. Für die Türkei geht es jetzt vor allem um einen angemessenen, höheren Beitrag der EU zu den Kosten der Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen. Bei Kosten von jährlich über 10 Milliarden Euro reichen die in der Vergangenheit veranschlagten 1,5 Milliarden Euro von der EU nicht aus.

Wegen der Lage in Syrien geht es jetzt auch darum, den Aufenthalt der Flüchtlinge in der Türkei rechtlich dauerhaft abzusichern, durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration ein Leben in Würde zu ermöglichen und Forderungen entgegenzutreten, die Flüchtlinge zu einer Rückkehr nach Syrien zu zwingen, ohne dass sie dort schon sicher leben können. Nur mit einem wesentlich größeren finanziellen Engagement kann die EU die notwendige Glaubwürdigkeit gewinnen, um mit der Türkei partnerschaftlich entsprechende Rahmenbedingungen auszuhandeln. Die Türkei muss eine längerfristige Perspektive für die Unterstützung der Flüchtlinge gewinnen.

Angesichts der zugespitzten Lage in Idlib ist es dringend Zeit zu handeln. Deutschland sollte das Thema auf EU-Ebene vorantreiben und zur Not in Vorlage gehen. Wirtschaftlich und humanitär ist die Unterstützung der Türkei die beste Option, die er derzeit gibt.

(Der Text erschien in gekürzter und leicht geänderter Fassung am 03.03.2019 als Gastkommentar unter dem gleichen Titel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.)


Coverfoto:  © UN Women Europe and Central Asia / Fatma Elzehra Muhaimid

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.