Wirtschaftspolitischer Beitrag

25 Jahre WTO – Ursachen des Zerfalls und Reformvorschläge für die Zukunft

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Autor

  • Gabriel Felbermayr
Erscheinungsdatum

Die Welthandelsorganisation WTO hat der internationalen Gemeinschaft sehr große Gewinne gebracht. In kleinen, offenen Volkswirtschaften wie den Niederlanden hängt etwa ein Viertel des Wohlstands pro Kopf vom Handelssystem der WTO ab, in Deutschland liegt der Anteil bei etwa fünf Prozent. Doch die multilaterale Handelsordnung befindet sich in einer tiefen, existenziellen Krise, denn die WTO ist nicht für eine geostrategische Rivalität ihrer Mitglieder ausgelegt. Eine einfache Lösung dafür gibt es nicht. Die WTO muss sich neu erfinden, nur so bleibt der Weltgemeinschaft ein Rückschritt in ärmere Zeiten erspart.

Als sich die GATT-Mitglieder am 15. April 1994 auf die Erklärung von Marrakesch einigten, die zur Gründung der WTO führte, gab es eine gemeinsame Vision über die geopolitische Landschaft der Zukunft. Nach dem Ende des Kommunismus im sowjetischen Stil wurde allgemein angenommen, dass sich alle Länder allmählich zu einem weitgehend ähnlichen Modell demokratischer Marktwirtschaften entwickeln würden. Die einzige verbliebene Supermacht, die USA, sollte weltweit für eine liberale Weltordnung nach eigenem Vorbild sorgen.

Der Systemwettbewerb zwischen Ost und West, wie man ihn bis dato kannte, würde dann der Vergangenheit angehören und eine internationale Wirtschaftsordnung würde nicht unter grundlegenden geopolitischen Meinungsverschiedenheiten leiden, da sich die ökonomischen und humanitären Wertesysteme der politischen Akteure angeglichen hätten. Diese Hoffnung hat sich allerdings nicht erfüllt, wie der gegenwärtige Systemwettbewerb zwischen dem demokratischen, marktorientierten Kapitalismus des „Westens“ und dem autokratischen Staatskapitalismus einiger Schwellenländer wie China beweist.

Hier liegt das grundlegende Problem der WTO begründet. Heute umfasst die Organisation 164 Mitglieder, von extrem armen bis zu extrem reichen Ländern, von einigen der schrecklichsten Autokratien der Welt bis hin zu Musterdemokratien, von illiberalen geschlossenen Volkswirtschaften wie Venezuela bis hin zu sehr liberalen wie Singapur. Und auch Länder mit sehr ähnlichen institutionellen Strukturen können ganz unterschiedliche Interessen innerhalb der WTO verfolgen.

Da die WTO eine mitgliederbasierte Institution ist, verfügt jedes ihrer Mitglieder über ein gleichberechtigtes Vetorecht. Die enorme Heterogenität und der Systemwettbewerb unter großen Mitgliedern wie den USA und China verkomplizieren die Einigung auf ein einheitliches Regelwerk ungemein. Es konkurrieren ökonomisch grundsätzlich unterschiedliche Konzepte, zum Beispiel in Bezug auf die Legitimität von Subventionen oder die Frage nach der marktbeherrschenden Stellung von Unternehmen.

Dazu kommt, dass das politische Auseinanderdriften der WTO-Mitgliedsländer einherging mit einer Angleichung ihrer Wirtschaftskraft. Das BIP der G7-Länder ist im Verhältnis zum globalen BIP von fast 65 Prozent Anfang der 90er Jahre auf heute weniger als 40 Prozent gesunken. Der wirtschaftliche Aufstieg der „Nicht-G7“ wurde durch die Integration von einstmaligen Niedriglohnländern in das globale Wertschöpfungssystem vorangetrieben. Anders als erhofft führte die ökonomische aber nicht auch zu politischer Konvergenz.

Die Motivation für die Liberalisierung des Welthandels war immer, die wirtschaftliche Angleichung voranzutreiben. Dies ist gelungen. Kleine, oft relativ arme Länder zählen zu den größten Nutznießern des multilateralen Systems der WTO. Brisant ist, dass vor allem China dieser Aufstieg gelungen ist, ohne das demokratisch-marktwirtschaftliche System des „Westens“ zu kopieren.

Die USA und vermutlich auch europäische Staaten hätten dem Beitritt Chinas niemals zugestimmt, wenn sie damals gewusst hätten, dass das Land sie binnen eines Vierteljahrhunderts hinsichtlich der gesamten Wirtschaftskraft überholen könnte und dabei auf einen ganz anderen, rivalisierenden Gesellschaftsentwurf setzt. Spätestens seit der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2009 hat China aufgehört, sein Wirtschaftssystem dem westlichen Modell anzugleichen. Damit treten Unvereinbarkeiten des chinesischen Staatskapitalismus mit dem westlichen Wirtschaftsmodell immer deutlicher zu Tage. Die Lage verschärft sich weiter, weil sich das Reich der Mitte seit einigen Jahren gar anschickt, sein Modell mit Hilfe der Belt-and-Road-Initiative zu exportieren. Es ist daher nicht allzu verwunderlich, dass die USA, ausschlaggebende Kraft für ein liberales Welthandelssystems in den 90er Jahren, sich allmählich von ihrer ursprünglichen Rolle zurückziehen.

Politische Unterschiede und eine Angleichung der Wirtschaftskraft sind dabei kein Problem an sich, sondern werden erst dann zum Hemmschuh, wenn zentrale Akteure einander nicht vertrauen und opportunistisches Verhalten der Handelspartner befürchten. Als China im November 2001 in die WTO aufgenommen wurde, war das Vertrauen untereinander offenbar noch groß genug, seither ist es stark zurückgegangen.

Diese Welthandelsorganisation wurde für eine Welt entwickelt, in der es keine substanziellen geostrategischen Rivalitäten gibt. Die Grundprämisse der WTO (und ihres Vorgängers, des GATT) war, dass Wirtschaftspolitik alleine darauf abzielt, das Pro-Kopf-Einkommen der Bürger zu erhöhen. Solch ein universeller Fokus führt zu einer einfachen Logik: Wann immer die Liberalisierung des internationalen Handels zu einem höheren Pro-Kopf-Einkommen führt, ist dies willkommen. In einem solchen Gedankenmodell profitieren alle Länder von zunehmender Arbeitsteilung, auch wenn unterschiedliche Handelspartner unterschiedlich stark gewinnen. Damit diese Positivsummenlogik funktioniert, braucht es allerdings viel Vertrauen. Jeder Handelspartner muss darauf vertrauen können, dass seine Abhängigkeit von ausländischen Beschaffungs- und Absatzmärkten nicht zu seinem Schaden ausgenutzt wird. Diese Bedrohung ist umso größer, je größer der Handelspartner relativ zur eigenen Volkswirtschaft ist.

Je mehr sich die Akteure vertrauen, desto eher können sie bei multilateralen Verhandlungen das Pro-Kopf-Einkommen als politische Zielgröße in den Blick nehmen. Je kleiner die verfügbare Vertrauensmenge, desto stärker werden sich die Akteure darauf konzentrieren, die relative Wirtschaftskraft ihres Gegners zu schwächen, selbst wenn dabei die eigene Wirtschaft etwas leidet.

Wenn sich die politischen Entscheidungsträger jedoch nicht mehr nur um das Pro-Kopf-Einkommen, sondern auch und vielleicht sogar vornehmlich um die Größe ihrer eigenen Volkswirtschaften im Vergleich zu ihren systemischen Konkurrenten kümmern, befindet sich die Welt nicht mehr in einem Positivsummenspiel, sondern in einem Nullsummenspiel. Es geht den Akteuren um die Verteilung der vorhandenen wirtschaftlichen und politischen Macht, nicht mehr um die Schaffung von neuem, gemeinsamem Wohlstand. In einer solchen Welt bricht das Lehrbuchmodell der WTO zusammen: Die bisher so erfolgreichen Prinzipien, Reziprozität und Nichtdiskriminierung, reichen nicht mehr aus, um kooperative Ergebnisse zu erzielen. Im Wettkampf um Größe zieht man die „Waffe“ der Zölle, der Wechselkurse oder der internationalen Investitionen.

Viele aktuelle wirtschaftspolitischen Spannungen und Entscheidungen können durch die Rückkehr des Systemwettbewerbs erklärt werden. So agieren Handelspartner dann oftmals wieder nach merkantilistischem Denken, also mit Blick auf den bilateralen Handelsbilanzsaldo gegenüber einem Rivalen. Der intellektuelle Pate der nach dem Zweiten Weltkrieg gescheiterten Internationalen Handelsorganisation, John Maynard Keynes, war sich dieses Problems bewusst und plädierte daher für Mechanismen, die für ausgeglichene, bilaterale Handelssalden sorgen sollten. Die WTO hat für bilaterale Salden jedoch (zu Recht) überhaupt keine Regeln, da sie für die wohlfahrtssteigernden Effekte des internationalen Handels im Sinne eines Positivsummenspiels vollkommen irrelevant sind.

Auch die von vielen Politikern unterstellte zentrale Rolle des Verarbeitenden Gewerbes ergibt in einem Wettkampf der Systeme Sinn. Nach der ursprünglichen kooperativen Logik der WTO wäre es Ländern egal, auf welchen Sektor sie sich spezialisieren. Wenn der Verlust der Industrieproduktion durch einen Vorteil im Dienstleistungssektor überkompensiert wird, würde jedes Land darin einen Vorteil für seinen Wohlstand erkennen und diese Entwicklung akzeptieren. Wenn die Länder jedoch dem kooperativen Verhalten der Handelspartner nicht vertrauen, wird die Selbstversorgung in kritischen Sektoren plötzlich wichtig.

Eine weitere Folge der Krise der WTO ist die Zunahme bilateraler Abkommen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Zahl der Präferenzabkommen zur Jahrtausendwende am schnellsten zugenommen hat, zu der Zeit also, als sich herausstellte, dass das multilaterale System der WTO auf unhaltbaren Annahmen beruhte. In der Nullsummenlogik, wo es nur um die Steigerung der eigenen relativen Stärke geht, sind bilaterale Abkommen noch attraktiver, insbesondere für Länder mit großen Heimatmärkten wie die USA, die EU oder China.

Die Krise des multilateralen Systems ist daher nicht nur eine Folge des neuen wirtschaftlichen Nationalismus, wie ihn Politiker wie Donald Trump, Xi Jinping, Wladimir Putin oder Narendra Modi verkörpern. Sondern die Dysfunktionalität der WTO hat den Aufstieg der neuen nationalen Rechten am Ende erst ermöglicht. Es ist aber auch klar, dass der aggressive ökonomische Nationalismus das Vertrauen in multilaterale Abkommen weiter untergräbt und die Lähmung der WTO verstärkt. Die Weltgemeinschaft ist dadurch um ein Forum für Diskussionen und Streitbeilegung ärmer.

Das multilaterale System hat fast allen Ländern der Welt sehr große ökonomische Vorteile gebracht, eine Abkehr davon würde die Welt verarmen lassen und die Sorge um die Verteilung des vorhandenen Wohlstands zum vordringlichen Problem machen. Die Herausforderung besteht also darin, die Regeln der WTO so anzupassen, dass sie der komplizierten politischen und wirtschaftlichen Gemengelage gerecht werden.

Um aus der gegenwärtigen Sackgasse herauszukommen, muss man sich darüber klar werden, dass die konzeptionelle Grundlage der WTO auf einer kurzen historischen Ausnahmesituation beruht, in welcher der Nationalismus überwunden geglaubt war. Heute muss man davon ausgehen, dass der internationale Wettstreit der politischen Systeme um die wirtschaftliche Vormachtstellung anhalten wird.

Unter der Prämisse, dass die Wirtschaftssysteme von Schlüsselspielern wie China oder den USA in naher Zukunft nicht zusammenwachsen werden, und dass das verlorene Vertrauen nicht so leicht wiederhergestellt werden kann, sollte die WTO folgende Maßnahmen umsetzen, um sich selbst vor der Bedeutungslosigkeit zu bewahren.

Eine unmittelbare Bedrohung für die Glaubwürdigkeit der WTO ist die Blockade der USA gegen die Ernennung von Richtern im WTO-Berufungsgremium. Sie muss daher mit höchster Priorität ihr Schiedsgerichtsverfahren neu organisieren, um handlungsfähig zu bleiben und sollte künftig schlicht auf eine Berufungsinstanz verzichten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Streitbeilegungssysteme keine Berufungsinstanz vorsehen, auch in der langjährigen Praxis zwischen Investoren und Staaten ist dies der Fall. Länder, die auf einen Berufungsmechanismus zurückgreifen wollen, müssen dann Lösungen außerhalb der WTO finden. Die EU hat bereits ein Musterpanel mit Kanada eingerichtet, andere Länderpaare könnten dasselbe tun oder die Systeme anderer Länder übernehmen.

Anschließend sollte die WTO aktiv Vorsorge für ihren Zusammenbruch treffen und ein Rechtssystem entwickeln, das im Fall der Fälle an ihre Stelle tritt. Der ehemalige WTO-Generaldirektor und EU-Handelskommissar Pascal Lamy nannte dies den Plan B. Ein solcher Schritt würde Druck auf die USA ausüben, konstruktiver nach Lösungen zu suchen und Reformen zu akzeptieren, anstatt das gesamte System zu lähmen. Aber er reicht vermutlich noch nicht aus, um die Unterstützung der USA zurückzugewinnen, da die Sorge vor einer Übermacht Chinas zu groß ist. Daher muss die WTO gleichzeitig auch den Systemunterschieden zwischen ihren Mitgliedern begegnen.

Dies könnte über ein Klubsystem organisiert werden. Ein Kern von demokratischen Marktwirtschaften und angepassten Wertesystemen vertieft die wirtschaftliche Integration weiter, verzichtet auf handelspolitische Freiheitsgrade und tritt Souveränität an gemeinsame Streitschlichtungsinstanzen ab. Im Handel mit Ländern, deren Wirtschaftssysteme nicht mit einem solchen Welthandelsregime kompatibel sind, kommen dann Regeln zur Anwendung, die mehr jenen des GATT von vor 1995, als jenen einer weiterentwickelten WTO entsprechen.

In gewisser Weise operiert die WTO bereits heute so, da sich ihre Mitglieder schon jetzt innerhalb gleichgesinnter Wirtschaftssysteme organisieren und dabei Systemkonkurrenten außen vor lassen. Ein solch zweigliedriger Ansatz hat natürlich Mängel. Er ist nur die zweitbeste Lösung für eine Welt, in der sich die Handelspartner misstrauen. Aber es geht um das Risiko eines kompletten Systemausfalls, der zu viel höheren Kosten führen würde. Die Europäische Union sollte hier eine Führungsrolle übernehmen.

Zu guter Letzt sollte die WTO den Abschluss bilateraler Handelsabkommen unterstützen. Diese können ein multilaterales Systems nicht ersetzen, bieten aber Sicherheit in Zeiten, in denen die Welthandelsordnung neu verhandelt wird. Eine wichtige Anforderung an diese Abkommen muss sein, dass sie für eine multilaterale Lösung offen sind, sobald sich eine neue globale Ordnung gefunden hat.

Die WTO wird zum Jahreswechsel 25 Jahre alt. Wenn die Staatengemeinschaft auch ihren 30. Geburtstag noch feiern will, muss sie jetzt den Realitäten der Zeit ins Auge sehen und handeln. Es geht um den Wohlstand der Welt und vielleicht sogar um mehr.

(Der Text erschien in gekürzter und leicht geänderter Fassung am 12.12.2019 als Gastkommentar unter dem Titel Ein Plan B für die WTO in der Zeitschrift Die Zeit.)


Coverfoto: © Dilok Klaisataporn – iStockphoto

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.