Wirtschaftspolitischer Beitrag

Wahlprogramme gehen am Kern-Problem der EU vorbei

Autor

  • Jürgen Stehn
Erscheinungsdatum

Wieder einmal steht die europäische Integration am Scheideweg. Die große Finanz- und Schuldenkrise, die Diskussionen um einen GREXIT, die Flüchtlings

Experte IfW Kiel

Diese Frage spielt auch in den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl eine mehr oder minder bedeutende Rolle. Die koalitionsrelevanten Parteien CDU/CSU, SPD, Die Grünen und die FDP vereint, dass sie im europäischen Integrationsprozess einen Motor für Frieden, Demokratie und Wohlstand sehen und daher den Weg der Integration weiter gehen wollen. Ebenfalls gemeinsam verfolgen sie das Ziel, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU – wenn auch mit unterschiedlichen Ausprägungen – weiter zu entwickeln. Mit Blick auf die Erweiterung der EU befürworten CDU, SPD und Die Grünen eine künftige Aufnahme der Länder des westlichen Balkans in die EU und eine Fortführung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Allerdings haben die Spitzenkandidaten von CDU/CSU und SPD im Wahlkampf eine Kehrtwende vollzogen und schließen einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nun nicht mehr aus. Auch in der Frage der Vertiefung der Gemeinschaftsbeziehungen gibt es einzelne Übereinstimmungen zwischen den koalitionsrelevanten Parteien. So wollen CDU/CSU, SPD und Die Grünen den Europäischen Stabilitätsmechanismus in Gemeinschaftsrecht überführen und zu einem Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln. SPD und FDP sehen eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten als ein geeignetes Instrument zur Vertiefung des Integrationsprozesses an. Die Grünen schließen die Möglichkeit eines schnelleren Vorangehens einzelner EU-Länder nicht aus, lehnen aber ein Kerneuropa und eine Spaltung der EU ab. Die Spitzenkandidatin der CDU/CSU hat in Interviews ebenfalls eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten befürwortet, im Wahlprogramm ihrer Partei fehlt allerdings eine Stellungnahme hierzu.

Alle koalitionsrelevanten Parteien setzen in ihren Wahlprogrammen ausgewählte Schwerpunkte einer künftigen Vertiefung der Gemeinschaftsbeziehungen, mit denen sie sich von der Konkurrenz abheben. Die CDU/CSU möchte vorrangig das gemeinsame Asylsystem der EU vollenden, die FDP fordert den Aufbau einer Europäischen Armee unter gemeinsamem Oberbefehl der EU-27-Staaten. Die SPD möchte ein breit angelegtes gemeinsames EU-Investitionsprogramm für Zukunftsinvestitionen auflegen, Mindeststandards in der Sozialpolitik definieren und eine Europäische Sozialunion initiieren, die Wirtschaftspolitik in Europa durch die Errichtung einer Wirtschaftsregierung für den Euro-Raum koordinieren und die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung und des Steuervollzugs in der EU voranbringen. Die Grünen wollen mittelständische Unternehmen in der EU finanziell beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit unterstützen. Finanziert werden soll dies durch eine gemeinsame, konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer und einen Mindeststeuersatz für in der EU ansässige Unternehmen. Darüber hinaus streben Die Grünen einen Pakt für nachhaltige Investitionen in der EU an, wollen Mindeststandards in der sozialen Sicherung und auf dem Arbeitsmarkt festlegen und eine europäische Arbeitslosenversicherung einführen.

Mit dieser breiten Palette angestrebter Vertiefungen der Gemeinschaftsbeziehungen geben vor allem SPD und Die Grünen wieder einmal die Standardantwort auf europäische Sinnkrisen. Sie lautet: „Vertiefung und Erweiterung“. Die Süderweiterung in den siebziger Jahren, die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes in den achtziger und neunziger Jahren, die Osterweiterung, die Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und das Schengen-Abkommen in den 2000er Jahren waren stets auch eine Reaktion auf eine aufkommende „Europamüdigkeit“ und sollten als Leuchttürme den Integrationsgeist der Menschen in Europa neu erwecken.

Diese Standardantwort der europäischen Politik kann die gegenwärtige Sinnkrise jedoch nicht lösen. Denn die Zweifel am Sinn und Zweck des europäischen Integrationsprozesses sind ja gerade daraus entstanden, dass viele Menschen zunehmend den Eindruck gewonnen haben, ihre alltäglichen Probleme und Besorgnisse würden von der EU-Politik nicht wahrgenommen werden. Jetzt wieder einmal auf eine Vertiefung oder Erweiterung zu setzen, würde diesen Eindruck noch verstärken. Mit ihrem (im Falle der Grünen eingeschränkten) Plädoyer für eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten signalisieren SPD und Die Grünen aber immerhin, dass sie dieses grundsätzliche Problem zumindest im Blick haben: Eine Vielzahl ihrer „Vertiefungswünsche“ dürften in der EU der 27 keine Mehrheit finden, aber vielleicht in einem kleineren Kreis gleichgesinnter EU-Mitgliedsländer realisierbar sein.

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hat jedoch ein schwerwiegendes Konstruktionsproblem: Es ist ohne eine Festlegung von Kernkompetenzen der EU letztlich nicht funktionsfähig. Ohne Kernkompetenzen, die für alle (Kern-)Mitgliedsstaaten gelten, verkommt die EU zu einem undefinierten Konglomerat von Staaten ohne Markenkern. Wenn nicht mehr deutlich wird, wofür die EU eigentlich steht, schwindet sehr schnell die Attraktivität, die sie trotz aller gegenwärtigen Probleme immer noch für die meisten Mitgliedsländer und nicht zuletzt auch für Investoren aus aller Welt ausstrahlt. Ohne Kernkompetenzen wird zudem das bestehende Demokratiedefizit der EU weiter verstärkt. Schon heute können die meisten Wähler in den Mitgliedsländern nicht mehr erkennen, welche Zuständigkeiten die EU eigentlich hat, geschweige denn abwägen, welche EU-Politik ihrer nationalen Regierung sie bevorzugen. Die Politik ist daher gefordert, festzulegen und zu begründen, welche Kern-Kompetenzen eine EU 27 künftig haben sollte und welche Aufgaben besser von den Nationalstaaten übernommen werden. An diesem Kern-Problem der EU scheitern letztlich alle Wahlprogramme der koalitionsrelevanten Parteien.

FDP („Zu einer starken Gemeinschaft gehört es, das Subsidiaritätsprinzip in der EU zu wahren“) und SPD („Wir wollen auch, dass sich die EU und ihre Organe auf das wirklich Wesentliche konzentrieren: Auf die Zukunftsaufgaben, die wir nur mit gemeinsamer europäischer Kraft meistern können“) erwähnen mit dem Subsidiaritätsprinzip in ihren Wahlprogrammen immerhin mehr oder weniger explizit einen Analyserahmen, anhand dessen sich Kernkompetenzen der EU ableiten lassen. Das Subsidiaritätsprinzip, das Eingang in Artikel 5 des EU-Vertrags gefunden hat, bestimmt, dass die EU nur tätig wird, „ sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler und lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können“. Vor einer Aussage, welche Kompetenzen vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips der EU 27 zukünftig übertragen werden sollten, schrecken jedoch auch FDP und SPD zurück.

Eine auf Effizienzkriterien basierende Antwort auf diese Frage lässt sich aus dem ökonomischen Subsidiaritätsprinzip ableiten. Es besagt, dass eine Verlagerung von Aufgaben (Kompetenzen) von den Nationalstaaten auf die EU  stets zu einer Vernachlässigung politischer Präferenzen einzelner Bevölkerungsgruppen in den Mitgliedsländern führt. Der EU sollten nach dem ökonomischen Subsidiaritätsprinzip daher nur Aufgaben übertragen werden, wenn durch eine Kompetenzverlagerung Effizienzgewinne zu realisieren sind, welche die Kosten einer Verletzung individueller Präferenzen mehr als ausgleichen. Anhand der Effizienzkriterien des ökonomischen Subsidiaritätsprinzips lassen sich acht Kernkompetenzen der EU definieren: die Handels-, Kapital- und Niederlassungsfreiheit, die Fusions- und Beihilfenaufsicht sowie die Asyl-, Sicherheits- und Umweltpolitik. Eine künftige thematische Ausrichtung der EU 27 entlang dieser Kernkompetenzen verspricht erhebliche Wohlstandsgewinne für die teilnehmenden Länder.

Um den europäischen Integrationsprozess auch künftig zum Erfolg zu führen, ist eine partei- und grenzübergreifende öffentliche Diskussion über geeignete Kriterien für eine effiziente Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Nationalstaaten und eine daraus resultierende Definition europäischer Kernkompetenzen unerlässlich. Denn nur durch eine transparente und offene Auseinandersetzung darüber, wofür Europa steht und zukünftig stehen sollte, lassen sich auch die Menschen, die sich aus Europamüdigkeit in den Nationalismus zurück gezogen haben, wieder für die europäische Idee gewinnen.

Weiterführende Literatur
Stehn, Jürgen (2017). Das Kern-Problem der EU. Kiel Policy Brief 106.

In der Reihe Kiel Focus veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft Essays zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen für deren Inhalte die Autorinnen und Autoren alleine verantwortlich zeichnen. Die in den Essays abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen spiegeln nicht notwendigerweise die Empfehlungen des Instituts für Weltwirtschaft wider.