Wirtschaftspolitischer Beitrag

Wachstum und Wohlstand

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Autor

  • Stefan Kooths
Erscheinungsdatum

Wachstumskritik hat Dauerkonjunktur. Im Mittelpunkt steht mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine Größe, der zuweilen Eigenschaften zugeschrieben werden, die es konzeptionell weder haben soll noch theoretisch haben kann. Allerlei Missverständnisse sind die Folge.

Experte IfW Kiel

Konjunkturforscher unterscheiden zwischen Expansion und Wachstum. Wachstum beschreibt die Zunahme der Wirtschaftsleistung, die bei normal ausgelasteten Kapazitäten möglich ist. In der konjunkturellen Abfolge von Über- und Unterauslastung kann die Produktion stärker bzw. schwächer expandieren als die Produktionskapazitäten wachsen. Weil der Auslastungsgrad naturgemäß nicht dauerhaft steigen kann, wird die Entwicklung der längerfristigen Güterversorgung nur über die Wachstumsrate adäquat erfasst.

Der Zweck des Wirtschaftens ist die Bereitstellung von konsumierbaren Gütern. Konsumgüter sind Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Sie werden umso höher bewertet, je drängender das Bedürfnis ist, dem sie dienen. Güter, die nicht selbst konsumierbar sind, erlangen nur dadurch einen Wert, dass sie zur Produktion von Konsumgütern beitragen. Alles andere ist wertlos. Die Wachstumstreiber – Bildung, Sachkapitalaufbau und technischer Fortschritt – bedingen allesamt zunächst einen Konsumverzicht, also ein Abwägen zwischen Zukunfts- und Gegenwartskonsum. Ein „konsumgetragenes Wachstum“ ist ein Widerspruch in sich. Wachstum ist konsummotiviert (zukünftiger Mehrkonsum), aber kapitalbasiert (heutiges Sparen).

Das BIP ist die am meisten beachtete Größe zur Beschreibung der Wirtschaftsleistung. Es misst das Ergebnis der zu Marktpreisen (hilfsweise zu Kosten) bewerteten ökonomischen Aktivität in einem Wirtschaftsraum. Zentral für jede ökonomische Aktivität ist die Produktion, also die Umwandlung von Gütern mittels Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital). Wird Korn zu Mehl vermahlen, so entspricht die Höherbewertung des Mehls gegenüber dem Korn der Wertschöpfung, die als Einkommen den Produktionsfaktoren dafür zufließt, dass durch ihren Einsatz das Korn näher an seine konsumfähige Bestimmung heranrückt. Das BIP ist die Summe aller durch solche Verarbeitungsprozesse entstehenden Einkommen (E) im Inland zuzüglich der Abschreibungen (D). Letztere dienen dem Erhalt des Kapitalstocks und machen das „Brutto“ im Bruttoinlandsprodukt aus. Lässt man Gütersteuern und -subventionen außen vor, so entspricht das BIP der Bruttowertschöpfung (E+D).

Zusammen mit den Importen (Im) ergibt das BIP einen Güterberg, der für Konsum (C), Investitionen (I) und Exporte (Ex) verwendet werden kann. Dies lässt sich umstellen zu: BIP = C + I + Ex - Im. Kaum ein Zusammenhang hat in der Geschichte des ökonomischen Denkens mehr Verwirrung gestiftet als dieser. Es ist nur eine Definition, die naturgemäß keine Kausalitäten ausdrücken kann. Aber die suggestive Kraft einer Gleichung, in der links das BIP und rechts Konsum, Investitionen und Exporte abzüglich Importen auftauchen, war wohl oft übermächtig.

Die Irrtümer beginnen damit, dass die Verwendung als Nachfrage und die Güterentstehung (Wertschöpfung) als Angebot missverstanden werden. Den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sind diese Kategorien indes aus guten Gründen völlig fremd. Auch auf der Verwendungsseite werden realisierte Marktergebnisse gemessen. So ergibt sich der Konsum als Summe aller Umsätze auf Konsumgütermärkten. Und auf jedem dieser Märkte resultieren die Umsätze aus einem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Entstehungs- und Verwendungsseite greifen logisch ineinander, weil jedes Gut, das entstanden ist, für irgendetwas verwendet wird. Zugleich muss jedes Gut, das verwendet wird, irgendwie entstanden sein. Mit Angebot und Nachfrage hat dies nichts zu tun. Sinken die Getreidepreise wegen guter Ernten und wird deshalb mehr Brot verkauft, so wird man das kaum einen Nachfrageeffekt nennen. Oft geschieht aber genau das, und jeder Konsumanstieg findet als „höhere Konsumnachfrage“ Eingang in die Berichterstattung.

Merkantilisten haben seit jeher die Differenz aus Exporten und Importen ins Visier genommen, die Ökonomen unglücklicherweise „Außenbeitrag“ getauft haben. Diese Größe trägt zu nichts bei außer zur Verwirrung und protektionistischen Versuchungen. In mechanischer Denkweise machen sich Merkantilisten daran, Importe zu behindern, in der Annahme, dies müsse automatisch – nachgerade definitionsgemäß – das BIP steigern, weil ja auf der rechten Seite weniger subtrahiert würde. In analoger Weise reden sie der Exportförderung das Wort. Zum Ausgleich wegfallender Importe und erhöhter Exporte müssen aber heimische Produktionsfaktoren von anderen Verwendungen abgezogen werden. Diese Do-it-yourself-Mentalität verschenkt die Vorteile der Arbeitsteilung und kostet Wohlstand. Dies schlägt sich dann in einem geringeren BIP nieder, weil die heimischen Produktionsfaktoren weniger produktiv eingesetzt werden können.

Weit verbreitet ist die Ansicht, Naturkatastrophen und andere Unglücke schüfen Wachstum, da angeblich die Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten das BIP stimulieren. Kaum jemand hat zu diesem Irrglauben mehr beigetragen als John Maynard Keynes („Pyramid building, earthquakes, even wars may serve to increase wealth“) und seine Nachfolger. Paul Krugman wird nicht müde, die wirtschaftlichen Vorteile des zweiten Weltkriegs und der ihm vorausgegangenen Aufrüstung herauszustellen („Oh! What a lovely war!“). Der taiwanesische Starökonom Richard Koo hält gar die NS-Wirtschaftspolitik für richtig, weil sie über gigantische, mit der Notenpresse finanzierte Staatsdefizite Vollbeschäftigung erreicht hätte („nothing is worse than a dictator with a wrong agenda having the right economic policy“). Dabei waren die deutschen Staatsfinanzen bereits 1938 völlig zerrüttet, so dass der offene Bankrott und der inflationäre Kaufkraftüberhang nur durch einen beispiellosen Raubzug im In- und Ausland hinausgezögert bzw. eingedämmt werden konnten. Weniger grotesk, aber derselben abstrusen Logik folgen Abwrackprämien zur „Wachstumsstärkung“.

Bei solchem Unfug braucht man sich über den schlechten Ruf des Wachstumsbegriffs nicht zu wundern. Werden Produktionsfaktoren zerstört, sinkt die Wertschöpfung, und nur aus Gütern, die Konsumenten wertschätzen, kann gesamtwirtschaftliches Einkommen entstehen. Keynesianische Gruben, die der Staat heute ausheben lässt, nur damit sie die Arbeiter am nächsten Tag wieder zuschütten sollen, zählen nicht dazu: Der Lohn der Grubenarbeiter muss anderen weggenommen werden, eine Wertschöpfung findet nicht statt. Ebenso stehen Ressourcen zur Reparatur von Schäden für andere Zwecke nicht mehr zur Verfügung. Kriege sind Ressourcenfresser, die keine konsumierbaren Güter hervorbringen. Verteidigungskriege mögen den Konsumverzicht rechtfertigen. Wohlstand kosten sie dennoch – und zwar dauerhaft.

Der Mythos über Prosperität durch Zerstörung stellt die ökonomischen Zusammenhänge auf den Kopf. Aus mikroökonomischer Knappheit wird auf wundersame Weise makroökonomischer Überfluss. Strukturdiskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage stehen dieser Magie im Weg, weil mit den brachliegenden Kapazitäten typischerweise nicht das produziert werden kann, was die Konsumenten tatsächlich wünschen. Genau darin liegt die offene Flanke der Makroökonomik mit dem Ergebnis, dass jeder Mismatch irrtümlich als aggregierter Nachfragemangel erscheint. Nimmt man zusätzlich Geldillusion an, so könnte tatsächlich Unterbeschäftigung, die auf zu hohe Reallöhne zurückzuführen ist, auch durch sinnlose Projekte abgebaut werden, sofern die zusätzlichen Ausgaben nur das Preis-, nicht aber das Lohnniveau anheizen. Abgesehen von den fragwürdigen Annahmen ist das die aufwändigste Variante, um Preise und Löhne wieder ins Lot zu bringen, die mit vielen neuen Verzerrungen erkauft wird. Arbeitsmarktflexibilisierung wäre gescheiter.

Im Produktionsprozess werden auch nicht-erneuerbare natürliche Ressourcen in neue Güter umgewandelt. Das bedeutet weder das nahe Ende des Wachstums, noch erfordert dies eine BIP-Korrektur für den Ressourcenverlust, sofern die Verfügungsrechte klar geregelt sind. Durch Marktpreise erfolgt dann eine Bewertung der Ressource, die ihre Verknappung widerspiegelt. In der Folge wird der Verbrauch gedrosselt, weit bevor ihr Vorrat erschöpft ist. Zur Herstellung von Ersatzstoffen werden Produktionsfaktoren von anderen Verwendungen abgezogen, was sich BIP-mindernd auswirkt. Damit erübrigt sich eine weitere Korrektur. Ohne Verfügungsrechte für erschöpfbare Ressourcen (z. B. CO2-Zertifikate) kommt es allerdings zu Übernutzung, wodurch das heutige BIP zu Lasten des zukünftigen verzerrt wird.

Oft wird kritisiert, dass grenzenloses Wachstum unnatürlich sei. Dieses komme in der Natur nicht vor, und wenn doch, dann nur als krankhafte Erscheinung (Vermehrung von Krebszellen), die im Kollaps des Organismus enden. Hier zeigt sich einmal mehr, dass sich sozialwissenschaftliche Phänomene nicht ohne weiteres mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassen lassen. Wirtschaftliches Wachstum ist kein Immer-mehr-vom-immer-Gleichen, sondern beinhaltet vor allem qualitativen Fortschritt. Wir haben heute nicht statt einer Schreibmaschine oder eines Telefons zehn davon, sondern Tablets und Smartphones. Tonnendenken ist keine Kategorie der wirtschaftlichen Entwicklung, weil ökonomische Prozesse wertgetrieben sind.

Im BIP wird die Wertschöpfung aus der Erzeugung tausender Güter in einer Zahl verdichtet. Das geht nur, weil jedes Gut einen Preis hat. Äpfel und Birnen kann man nicht addieren, Äpfel- und Birnenumsätze schon. Um aber steigende Preise nicht fälschlicherweise als Gütervermehrung auszuweisen, werden die Obstumsätze um den durchschnittlichen Preisanstieg von Äpfeln und Birnen bereinigt. Zwischen zwei Jahren erhält man so die Veränderung der Obstmenge (das „reale“ Obstwachstum). Das Problem dabei: Neue Qualitäten oder gar neue Produkte bekommt man bei der Preisbereinigung kaum in den Griff. Was bei Obstaggregaten keine Schwierigkeiten macht, wird bei technischen Innovationen zu einer unüberwindlichen Hürde. Ein Golf VII ist nicht bloß ein teurerer Golf I, sondern ein ganz anderes Fahrzeug. Notebooks haben gar kein Pendant in den 1970er Jahren. Je länger die Zeitspanne, desto weniger aussagefähig sind Veränderungen von makroökonomischen Güteraggregaten. BIP-Vergleiche quer durch die Geschichte suggerieren daher eine Präzision, die es nicht gibt.

Zuweilen wird bemängelt, dass überhaupt Marktpreise in die BIP-Berechnung eingehen, weil diese durch verschiedene Einflüsse verzerrt sein können. Das trifft zu, ist aber angesichts viel gravierenderer konzeptioneller Probleme allenfalls eine Randerscheinung. Preise bilden sich nicht heraus, damit Ökonomen das BIP ausrechnen können, sondern sie dienen den Marktakteuren als Signale für wirtschaftliches Handeln. Bewertet wird dabei nicht die Gütergattung, sondern die zur Entscheidung anstehende Einheit und damit nur eine kleine Teilmenge der jeweiligen Gesamtproduktion. Wasser ist für Menschen unverzichtbar und hat hierzulande dennoch einen niedrigen Preis. Bei einer Alles-oder-Nichts-Frage würden wir für Wasser wohl das letzte Hemd hergeben. Diese Frage stellt sich aber nicht, sondern wir bewerten Wasser an dem Bedürfnis, das unbefriedigt bliebe, wenn wir einen Liter weniger davon hätten. Am Trinkwasser würden wir als Letztes sparen, sondern vielleicht das Auto seltener waschen. Folglich sagt der Marktumsatz über die Nützlichkeit der umgesetzten Gesamtmenge kaum etwas aus. Solange wir mehr Wasser haben als wir trinken können, bestimmt sich der Wert des Wassers nicht nach unserem Durst.

Die Wertproblematik weist darauf hin, dass das BIP kein Glücksmaß sein kann. Glück ist metrisch nicht zu fassen, interpersonell nicht vergleichbar und lässt sich daher nicht aggregieren. Dass Zufriedenheit und Pro-Kopf-BIP nicht parallel laufen, kann kaum überraschen. Der Mensch ist ein strebendes Wesen. Wirtschaftliches Handeln wird durch Unzufriedenheit motiviert. Sobald die drängendste Ursache für Unzufriedenheit überwunden ist, rückt die nächste in den Blick. Das können auch Bedürfnisse sein, die erst durch das Erreichte am Horizont der Wünsche aufscheinen. Im Mittelalter hat niemand von Transatlantikflügen geträumt, und der Wunsch, Demenz zu heilen, kommt erst auf, sobald Menschen ein hohes Alter – durch Fortschritte bei Hygiene, Ernährung und Medizin – überhaupt erleben. Mit der Freude über das Erlangte hält sich der Mensch nicht allzu lange auf. Sonst würden wir wohl heute noch auf den Bäumen sitzen oder könnten unser Glück kaum aushalten.

Glück und Wohlstand sind nicht dasselbe, aber es gibt einen klaren Gleichlauf vom BIP pro Kopf und dem, was mit mehr Lebensqualität einhergeht (Gesundheit, Mobilität, Kultur). Kein Wunder: Menschen lenken zusätzliche Güter dahin, wo die größten bislang noch unbefriedigten Bedürfnisse liegen. Den Beleg treten viele Menschen mit den Füßen an: Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen ziehen Migranten besonders an.

Ökonomen reden trotzdem nicht der Wachstumsmaximierung das Wort. Sie weisen allenfalls auf die Einbußen hin, die bestimmte Maßnahmen kosten. Hochproblematisch ist es, wenn die Wirtschaftspolitik durch massives Deficit-Spending Strukturprobleme zu überdecken trachtet, wodurch die Staatsverschuldung in untragbarer Weise anschwillt. Dann wird typischerweise der Ruf nach mehr Wachstum laut, um „aus den Schulden herauszuwachsen“. Wachstum dient in diesem Fall nicht den Verbraucherpräferenzen, sondern der Abwehr der Staatspleite. Das ökonomische System wird dann künstlich auf Ausdehnung getrimmt. Besonders skurril wird es, wenn diese Expansion durch die Aufnahme von noch mehr Schulden angestoßen werden soll. Eine solche Politik des makroökonomischen Dauerdopings zieht zu Recht harsche Kritik auf sich, weil dann das vermeintliche Wachstum zu einer Mischung aus Illusion und Selbstzweck wird.

(Geringfügig veränderte Fassung eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Dezember 2015 unter dem Titel „Der Wert des Wachstums“.)

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