Wirtschaftspolitischer Beitrag

Schengen: Warnungen vor Grenzkontrollen sind überzogen

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  • Matthias Lücke
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Schengen ist noch lange nicht am Ende. Die europäische Freiheit ist es auch nicht. Und der Binnenmarkt schon gar nicht. Doch die Prognosen über Folgek

Experte IfW Kiel

Betrachtet man nüchtern, was derzeit diskutiert wird, sind solche Schätzungen nicht nachvollziehbar: Niemand, außer vielleicht europafeindliche Rechtspopulisten, spricht davon, alle Grenzen innerhalb des Schengen-Raums wieder zu schließen und jede Person und jeden Container einer ausführlichen Überprüfung zu unterziehen, bevor der Schlagbaum geöffnet wird und der Zollbeamte das Signal zum Passieren gibt. Auf den Hauptrouten der Flüchtlinge vom Westbalkan bis nach Österreich, Deutschland oder Skandinavien sollen Grenzübergänge wieder kontrolliert werden, damit die Staaten feststellen können, wer das Land betritt. Wenn die Außengrenzen der EU nur unzureichend kontrolliert werden, folgt fast zwingend, dass die Nationalstaaten eigene Lösungen suchen. Auch wenn diese ohne Frage weder wünschenswert noch optimal sind. Wirklich betroffen sind davon am Ende aber nur die wenigsten Schengen-Grenzen.

Die Einführung von Grenzkontrollen bedeutet auch mitnichten das Ende des Binnenmarktes. Auf dieses Missverständnis gehen offenbar die hohen Verluste an Realeinkommen zurück, die France Stratégie und Prognos (im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung) voraussagen. Der Warenverkehr Europas bleibt in weiten Teilen unberührt. Betroffen sind in erster Linie Reisende und Pendler, die nun beim Passieren der Grenze ihren Pass vorzeigen müssen. Eine solche Passkontrolle kann äußerst effizient und zeitsparend vonstattengehen. Auch der Zutritt auf ein Firmengelände unterliegt starken Kontrollen, trotzdem kann der Ein- und Auslass und die Anlieferung von Waren selbst zu Stoßzeiten reibungslos laufen. Sicherlich wären dafür an den Grenzen zunächst Investitionen in Personal und Infrastruktur nötig, etwa spezielle Fahrspuren für Tagespendler und Spediteure.

Insgesamt werden die Schengen-Grenzen ungefähr 1,2 Milliarden Mal pro Jahr überquert. Würde durch die Passkontrollen jedes Mal eine Verzögerung von fünf Minuten auftreten, und legt man als Kosten den Mindestlohn von 8,50 Euro zugrunde, käme man für den Zeitverlust auf Kosten von unter 1 Milliarde Euro pro Jahr für ganz Europa. Natürlich ist die Realität komplizierter. Sicher dauert ein Übertritt auch mal länger als fünf Minuten, ein voll beladener LKW mit Fahrer kostet mehr als 8,50 Euro pro Stunde.

Auf der anderen Seite: Nur die wenigsten Grenzen wären betroffen und auch nur in eine Richtung. Österreich wird niemanden daran hindern, das Land in Richtung Süden (wieder) zu verlassen. Kontrollen würden unter Risikogesichtspunkten durchgeführt: Der bekannte Transporter der lokalen Spedition wird durchgewinkt, ein unbekannter Kleinbus mit osteuropäischem Kennzeichen herausgezogen. Es mag Einzelschicksale geben. Unterm Strich können die wirtschaftlichen Folgen einer Wiedereinführung von Kontrollen an einigen Schengen-Grenzen aber sehr gering gehalten werden, Investitionen in einen effizienten Ablauf vorausgesetzt. Eines der wohlhabendsten Länder Europas ist nebenbei bemerkt die Schweiz, die nur zur Schengenzone gehört, nicht zur EU-Zollunion, und deshalb ihren Warenverkehr mit der EU umfassend kontrolliert.

Allerdings werden Personenkontrollen an einzelnen Schengen-Grenzen die Flüchtlingsmigration nach Mitteleuropa nicht wesentlich verringern, solange diese Menschen nicht irgendwo menschenwürdig leben können. Zunächst müssen die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens so verbessert werden, dass die Menschen nicht mehr aus großer materieller Not weiter in die EU reisen. Hier kann vergleichsweise wenig Geld viel bewirken. Die Ausgaben für Flüchtlinge in Deutschland werden 2016 voraussichtlich bis zu 30 Mrd. Euro betragen, als Unterstützung für die Türkei sind bisher nur 3 Mrd. Euro aus der ganzen EU vorgesehen.

Dafür müssen die türkischen Sicherheitskräfte die illegalen Bootstransporte auf die ägäischen Inseln reduzieren und die türkische Landgrenze zu Griechenland und Bulgarien engmaschig kontrollieren. In Griechenland müssen EU-Aufnahmezentren entstehen, wo sich Flüchtlinge registrieren und ihre Asylanträge bewilligt werden. In diese Zentren müssen Flüchtlinge im Zweifel zurückverwiesen und nicht nach Mitteleuropa durchgewinkt werden. Das alles bedarf der Unterstützung der übrigen EU-Mitgliedsstaaten. Diese sollten in einem geordneten Verfahren auch anerkannte Flüchtlinge aus Griechenland und Kontingentflüchtlinge aus der Türkei aufnehmen, um diese Länder zu entlasten.

Die Bundesregierung wird nicht umhinkommen, ihrer Ankündigung, die Flüchtlingszahlen spürbar zu reduzieren, Taten folgen zu lassen. Das wird Geld kosten und auch Kontroversen mit anderen EU-Ländern bringen. Aber Europa muss entlang der Flüchtlingsroute zu einem geordneten Grenzmanagement zurückkehren – und hoffentlich irgendwann auch wieder zu ganz offenen Schengen-Grenzen.

Leicht geänderte Fassung eines Gastkommentares, der am 04.2.2016 unter dem Titel "Überzogene Warnungen vor Grenzkontrollen" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.