Wirtschaftspolitischer Beitrag

Gefangen in einer unglücklichen Beziehung

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Autor

  • Dennis J. Snower
Erscheinungsdatum

Großbritannien kann nicht mit Europa – aber ohne noch viel weniger. Der Brexit ist keine Lösung, stattdessen müssen beide Seiten ihre Ansprüche ve

Experte IfW Kiel

Eine Frau ist in einer lieblosen Ehe gefangen, die ihr und ihrem Mann jedoch große wirtschaftliche Vorteile bringt. Ihr Mann arbeitet mit vielen seiner Verwandten in einem großen Familienunternehmen. Dort gibt es zwar viel Streit, aber auch stets die Suche nach einer gemeinsamen Identität. Die Frau möchte damit nichts zu tun haben und denkt darüber nach, ihren Mann zu verlassen. Das Problem: Er ist in der Lage, die Bedingungen einer Scheidung zu diktieren. Sie denkt sich, dass eine Scheidung drei mögliche Folgen haben könnte: (1) Ihr Mann rächt sich und stürzt beide ins langfristige Unglück; (2) es folgt eine ausgesprochen schwierige Zeit, aus der sie aber gestärkt hervorgeht; oder (3) ihr Mann reagiert nachsichtig und räumt ihr mehr Freiheiten ein, so dass sie weiterhin wirtschaftlich profitiert, ohne Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.

Die Frau ist Großbritannien, ihr Mann und seine Verwandten sind der Rest der EU – und die Scheidung wäre der Brexit, für den Kommentatoren drei mögliche Szenarien entworfen haben: Großbritannien könnte langfristigen wirtschaftlichen und politischen Schaden nehmen; dem Land könnte eine schwierige Phase bevorstehen, aus der es wettbewerbsfähiger hervorgeht; oder es bekäme gute Austrittsbedingungen von der EU, wäre von den Regulierungen befreit und würde florieren. Was sollten die Briten tun?

Zunächst muss man zugeben, dass es sich in der Tat um eine lieblose Ehe handelt – und dass es keine einfachen Lösungen gibt. Die Eurozone ist zu einer engeren politischen Verbindung geworden, was unvermeidlich war. Denn ein gemeinsamer Währungsraum wäre ohne signifikante Koordination der Fiskalpolitik und eine verbesserte Strukturpolitik nicht nachhaltig, weil die Mitglieder sonst Gefahr laufen, wirtschaftlich immer stärker auseinanderzudriften. Es wird daher eher noch mehr politische Integration geben müssen. Großbritannien sieht diese Entwicklung kritisch. Denn weil das Land der Eurozone nicht angehört, hat es auch kein Interesse an einer Ausweitung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. In absehbarer Zeit wird es auf beiden Seiten keinen kompletten Sinneswandel geben. In der EU zu bleiben, wäre also weiterhin unerfreulich für viele Briten.

Doch dass es drei Szenarien für den Fall eines Brexit geben würde, ist eine Selbsttäuschung der Briten: Dass die EU Großbritannien ziehen lassen, dem Land aber weiter wirtschaftliche Vorteile gewähren würde, ist eine Illusion. Die EU müsste ein Exempel statuieren, um andere vom Verlassen der Union abzuschrecken. Und auch das zweite Szenario, dass Großbritannien zwar nach dem Brexit eine schwierige Phase durchlaufen müsste, aber gestärkt daraus hervorgehen würde, ist unrealistisch. Denn der politische und wirtschaftliche Schaden wäre unumkehrbar.

Großbritannien würde zudem seine Souveränität durch ein Verlassen der EU gar nicht stärken. Etwa die Hälfte der britischen Exporte gehen in EU-Länder, das Land ist somit auf den freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt angewiesen. Das geht nur, wenn EU-Regulierungen akzeptiert und Beiträge zum EU-Budget geleistet werden. Das zeigen die Beispiele Norwegens und der Schweiz sehr eindrucksvoll – Norwegens Pro-Kopf-Beitrag zum EU-Haushalt ist aktuell beinahe so groß wie der Großbritanniens.

Politisch würde der Brexit Großbritannien wie auch die EU schwächen: Schottlands Bestrebungen nach Unabhängigkeit bekämen Auftrieb, Finanzunternehmen würden London den Rücken kehren. Die EU würde ihre stärkste Militärmacht verlieren und wäre außenpolitisch wie auch innerhalb der NATO geschwächt. Kurz: Es wäre zwar unbequem für beide Seiten, wenn Großbritannien in der EU bleibt. Aber der Brexit wäre ein Desaster. Wo also ist der Ausweg?

Die Antwort ist dieselbe wie in jeder lieblosen Ehe, in der die Partner untrennbar miteinander verbunden sind, aber widersprüchliche Ansichten haben: Beide müssen ihre Ansprüche verändern und Kompromisse eingehen, um eine sinnvollere Beziehung zueinander zu finden, von der beide profitieren.

Die derzeitigen Visionen Europas – Brüssels Ansatz einer engeren politischen Union und die britische Idee von der EU als bessere Freihandelszone – sind unhaltbar. Die derzeitigen EU-Institutionen sind nicht nachhaltig, wie aktuell die Flüchtlingskrise zeigt. Die politische Integration funktioniert nicht, und die wirtschaftliche Integration ist ins Stocken geraten. So kann die EU langfristig nicht überleben. Zugleich hat Großbritanniens Vision von der EU als Freihandelszone nichts mit den politischen und institutionellen Realitäten zu tun.

Beide Seiten haben Fehler gemacht – und jetzt ist es an der Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, was eigentlich der europäische Traum ist. Dabei sollte man sich an jenen Idealen orientieren, die die Gründerväter des europäischen Projekts nach dem zweiten Weltkrieg hatten: die Vision Europas als offene, tolerante Gemeinschaft, die ihren Bewohnern Frieden und Wohlstand bringt. Wie lässt sich das erreichen?

Die jüngsten Konflikte in der EU um die Euro-Rettung oder die Flüchtlingspolitik haben gezeigt, dass politische Integration ohne vorherige soziale Integration unmöglich ist. In der EU zu leben bedeutet, nationale Interessen zugunsten des Allgemeinwohls zurückzustellen. Aber das werden die EU-Bürger nicht wollen, bevor sie einen größeren sozialen Zusammenhalt erreicht haben. Die Europäer müssen eine gemeinsame europäische Identität entwickeln, ohne dabei die existierenden nationalen und kulturellen Identitäten aufzugeben. Um diese Identität aufbauen zu können, muss es mehr Möglichkeiten für soziale Interaktion von Europäern unterschiedlichen nationalen, kulturellen und sozialen Hintergrunds geben.

Die EU hat sich bislang vor allem der politischen Integration gewidmet. Jetzt ist es an der Zeit, durch gemeinsame Bildung, Arbeitsmarktpolitik und kulturellen Austausch für mehr sozialen Zusammenhalt zu sorgen. Sobald die Europäer sich wirklich als „wir“ wahrnehmen, gibt es die Chance für eine gemeinsame Vision, die die Erwartungen miteinander verknüpft und genügend sozialen Nutzen erzeugt, dass Europäer bereit sind, dafür weniger Souveränität zu akzeptieren. Eine weitergehende politische Integration muss auf die soziale Integration folgen – nicht umgekehrt.

Das kann nicht funktionieren, wenn Großbritannien auf Ausnahmeregelungen pocht. Es kann auch nicht funktionieren, wenn man Populisten vom rechten wie linken Ufer nachgibt und nationalistische oder protektionistische Forderungen erfüllt. Europa braucht die Bereitschaft, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Das ist sicherlich ambitioniert – aber auch nicht ambitionierter als jener Teil des Weges, den Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bereits gegangen ist.

(Geringfügig geänderte Fassung eines Gastbeitrages in der Süddeutschen Zeitung vom 26.3.2016 unter dem Titel „Ab in die Paartherapie“.)