Wirtschaftspolitischer Beitrag

Flüchtlingsmigration: Die große Umverteilung

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Autor

  • Rolf J. Langhammer
Erscheinungsdatum

Die wirtschaftspolitische Diskussion über die Konsequenzen der Flüchtlingsmigration in Deutschland konzentriert sich zurzeit auf die budgetären Koste

Experte IfW Kiel

Deutschlands Wirtschaftsstruktur wird sich, hält die Migration an, sichtbar verändern, und zwar unter nicht unerheblichen Friktionskosten. Dies gilt für den Arbeits-, den Wohnungs- und den Gütermarkt. Auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes stehen zumeist ungelernte, jüngere, männliche Arbeitskräfte, die der deutschen Sprache noch nicht mächtig sind. Sie kämen zunächst für einfache personengebundene Dienstleistungen und handwerklich orientierte Tätigkeiten im Verarbeitenden Sektor in Frage, die die deutsche Wirtschaft in der gefragten Menge noch nicht anbieten kann, so lange die Sprachbarriere noch nicht überwunden ist und private Haushalte nicht bereit sind, sich bedienen zu lassen und dafür zu bezahlen. Auch die Sach- und Humankapitalintensität der deutschen Industrieproduktion steht der Beschäftigung der Flüchtlinge im Verarbeitenden Sektor im Wege.

Auf der Nachfrageseite sucht der Arbeitsmarkt Kontroll- und Schutzpersonal, Lehrer und Betreuer, zumeist im öffentlichen und öffentlich-nahen Sektor. Grob gesprochen, verschiebt sich der Arbeitsmarkt vom Güter- zum Dienstleistungssektor, in der Ökonomensprache weg vom handelbaren und hin zum nichthandelbaren Sektor. Dies wird auch die Preisrelationen zwischen beiden Sektoren dergestalt verändern, dass die Preise im nichthandelbaren Sektor stärker steigen werden als im handelbaren Sektor. Deutschland wird also real aufwerten. In der Folge werden diese Preissignale eine Umverteilung der Ressourcen zu Lasten des handelbaren Sektors und zugunsten des nichthandelbaren Sektors bewirken. Ungeachtet der Veränderungen des nominalen Euro-/Dollar-Wechselkurses wird damit die preisliche Exportwettbewerbsfähigkeit Deutschlands abnehmen, die Importnachfrage belebt, die Konsumneigung gestärkt und der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands verringert. Die ausländischen Partner Deutschlands werden diese Entwicklung begrüßen, weil sie lange von ihnen gefordert wurde.

Je asymmetrischer der Schock sein wird, je mehr also Deutschland und nicht andere EU-Staaten von den Flüchtlingen präferiert wird und je uneingeschränkter Deutschland die Flüchtlinge willkommen heißt, desto stärker werden diese Veränderungen auf Deutschland beschränkt bleiben. Zu diesen Veränderungen trägt auch die steigende Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt bei, der ebenfalls eher zum nichthandelbaren Sektor zu zählen ist. Der benötigte Wohnraum muss kostengünstig, vorzugsweise arbeitsintensiv (um Arbeitsplätze für die Flüchtlinge zu schaffen) und rasch erstellt werden. Dies könnte positiv zu bewertende Innovationen in der Produktionstechnologie zur Folge haben, für die Deutschland international bislang noch nicht bekannt war. Zudem könnten baurechtliche Vorschriften verschlankt werden und damit diesem Sektor weiteren Schub verleihen. Auf den ersten Blick erinnern diese Veränderungen an die Situation in der ersten Hälfte der neunziger Jahre unmittelbar nach der Wiedervereinigung, als Deutschland ebenfalls real aufwertete, den nichthandelbaren Sektor belebte und nach 1995 den Verlust internationaler Wettbewerbsfähigkeit beklagte. Nicht von ungefähr datiert sich der Beginn der Lohnmoderation mit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Dennoch sind die Bedingungen mit denen nach der Wiedervereinigung nicht zu vergleichen. Der sektorale Strukturwandel vollzog sich im wiedervereinigten Deutschland dank vergleichbarer Sprach- und Ausbildungsvoraussetzungen zwischen Ost- und Westdeutschen innerhalb der traditionellen Strukturen, also innerhalb des handelbaren Sektors. Zudem hielten die Infrastrukturinvestitionen in den neuen Bundesländern, die Einführung der D-Mark für das gesamte Bundesgebiet und soziale Unterstützungen für arbeitslos gewordene Ostdeutsche die Wanderung von Ost nach West in Grenzen. Das ist heute völlig anders. Der Strukturwandel wird sich zwischen einem hoch kompetitiven humankapitalintensiven Gütersektor und einem weniger kompetitiven Dienstleistungssektor vollziehen, mit weitaus längerem Anpassungsbedarf und höheren Friktionen als 1990–95. Es ist nicht auszuschließen, dass die deutsche Exportindustrie in nennenswertem Maße Ressourcen an den nichthandelbaren Sektor abgeben muss und wettbewerbsbedingt Standorte außerhalb Deutschlands verlagert. Auf neue Märkte, dank des so genannten Diaspora-Handels, also Handel zwischen Herkunfts- und Gastländern, der durch Migration angeregt wird, wird sie bei erzwungener Migration wegen der desolaten Situation in den Herkunftsländern nicht setzen können. Ebenso werden nennenswerte Rücküberweisungen aus den privaten Ersparnissen der Flüchtlinge in ihre von Bürgerkriegen zerrissenen Heimatländer die Ausnahme bleiben. Auch das war früher zu Zeiten der Gastarbeiterzeiten anders. Das Einkommen der Flüchtlinge wird weitgehend in Deutschland verbleiben und eine Nachfrage beflügeln, die preislich eher vom Angebot der Schwellen- und Entwicklungsländer bedient werden kann als vom heimischen Angebot.

Die skizzierten Strukturveränderungen können sich unabhängig von zukünftig vielleicht besseren Entwicklungen in den Herkunftsländern und Rückwanderung abschwächen, wenn die Sprachbarrieren rasch überwunden und die Asylanträge rasch entschieden werden und wenn die Integration in die Arbeitsmärkte relativ friktionslos erfolgt. Damit dies geschieht, müssen die Kapitalmärkte bereit sein, die für neue Produktionsstrukturen notwendig gewordenen Investitionen zu kreditieren und auch die Flüchtlinge als Start-up-Kreditnehmer zu akzeptieren. Das sind viele „Wenn“. Und das ist nicht alles. Zur strukturellen Umverteilung in der deutschen Wirtschaft kommt noch die finanzielle hinzu. Soll die Schuldenbremse eingehalten werden, muss innerhalb der konsumtiven Staatsausgaben von den Alt- zu den Neubewohnern umverteilt werden. Dies wird der Härtetest für die Willkommenskultur. Alternativ wird durch Aufweichung der Schuldenbremse zwischen der jetzigen und der kommenden Generation zu Lasten der Letzteren umverteilt. Die simple Gleichung „mehr junge Bewohner = mehr Prosperität in Zukunft“ kann nur aufgehen, wenn beide Umverteilungen als ein großes „Start-up“ für eine neue deutsche Wirtschaft verstanden werden und nicht als vorübergehende Herausforderung unter gegebenen Strukturen.

(Geringfügig veränderte Fassung eines Beitrags für die Rubrik „Denkfabrik“, der in der Wirtschaftswoche vom 01. April 2016 unter dem Titel „Der Zustrom von Flüchtlingen krempelt unsere Wirtschaft um“ erschienen ist.)