Wirtschaftspolitischer Beitrag

Die Abgabenbelastung von Arbeitnehmern: Warum die Analysen der OECD in die Irre führen

Kiel Focus Cover

Autor

  • Alfred Boss
Erscheinungsdatum

Die OECD veröffentlicht für ihre Mitgliedsländer seit Jahrzehnten regelmäßig Daten über die Lohnsteuer- und die Sozialabgabenbelastung typischer A

Berechnungen der OECD für das Jahr 2013

Nach der aktuellsten Untersuchung wurde ein lediger Arbeitnehmer in Deutschland im Jahr 2013 bei einem Durchschnittslohn in Höhe von 45 170 Euro (OECD 2014: 26) mit 49,3 Prozent im Durch­schnitt belastet (ebenda: 19, 292); die marginale Belastung betrug 60,0 Prozent (ebenda: 77).

Die Berechnungen der OECD beziehen sich auf insgesamt acht Typen von Arbeitnehmerhaushalten. Ergebnisse für drei Typen, und zwar für drei kinderlose Ledige im Alter von mindestens 23 Jahren, werden hier ausgewählt. Dabei wird angenommen, dass die betreffenden Personen nur Arbeitseinkommen beziehen, sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und nicht beitrags- und steuerbegünstigt für das Alter vorsorgen. Für die Höhe des Lohns im Jahr 2013 hat die OECD drei verschiedene Werte unterstellt:

  • Durchschnittslohn (Fall B),
  • Lohn in Höhe des 0,67fachen Durchschnittslohns (Fall A) und
  • Lohn in Höhe des 1,67fachen Durchschnittslohns (Fall C).

Zwei weitere Fälle werden hier dargestellt, um die Problematik des methodischen Vorgehens deutlicher als sonst möglich zu machen:

  • Lohn in Höhe des 2,5fachen Durchschnittslohns (Fall D) und
  • Lohn in Höhe des 3fachen Durchschnittlohns (Fall E).

Alle Löhne liegen oberhalb der Löhne, für die spezielle sozialabgabenrechtliche Regelungen gelten, aber – mit drei Ausnahmen – unterhalb der relevanten Beitrags­bemessungs­grenzen in der Sozialversicherung.

Anhand der relevanten Beitragssätze und Beitragsbemessungsgrenzen sowie des Einkommensteuerrechts lassen sich die Sozialversicherungsbeiträge, die Lohnsteuer und der Solidaritätszuschlag berechnen (Tabelle 1). Der Lohn- bzw. Einkommensteuer unterliegt der Bruttolohn nach Abzug bestimmter Werbungskosten und bestimmter Sonderausgaben. Der Pauschbetrag für Werbungskosten bei der Ermittlung der Einkünfte aus unselbstständiger Arbeit beträgt 1 000 Euro je Jahr (Steuergesetze 2014, § 9a Einkommensteuergesetz). Für Sonderausgaben nach § 10 Absatz 1 Nummer 1, 1a, 4, 5, 7 und 9 und nach § 10b gilt für einzelne Steuerpflichtige ein Pauschbetrag von 36 Euro (Steuergesetze 2014, § 10c Einkommensteuergesetz). Hinzu kommen Abzugsbeträge für Sozialversicherungsbeiträge (Boss 2014).

Der Solidaritätszuschlag beträgt grundsätzlich 5,5 Prozent der Lohn- bzw. Einkom­men­steuerschuld. Für niedrige Löhne ist der Steuersatz kleiner; er steigt allmählich von 0 auf 5,5 Prozent.

Die Belastung durch die Sozialversicherungsbeiträge, also deren Relation zum Bruttolohn bzw. zu den Arbeitskosten, sinkt wegen der Beitragsbemessungsgrenzen ab einer bestimmten Höhe des Bruttolohns (Tabelle 2). Dagegen nimmt die Belastung durch die Lohnsteuer und durch den von ihr abhängigen Solidaritätszuschlag mit steigendem Bruttolohn zu. Die gesamte Belastung steigt zunächst, sinkt dann aber ein wenig.

Bei den eigenen Berechnungen für das Jahr 2015 wird angenommen, dass die Löhne der ausgewählten Arbeitnehmer im Jahr 2014 um 2,8 Prozent gestiegen sind und im Jahr 2015 um 3,0 Prozent steigen. Die Beitragsbemessungsgrenzen folgen der Lohnentwicklung gemäß der gesetzlichen Regelung mit einer Verzögerung von zwei Jahren (Tabelle 3). Bei der Renten- und bei der Arbeitslosenversicherung werden den Berechnungen – wie bei denen für das Jahr 2013 – die für das frühere Bundesgebiet geltenden Grenzen zugrunde gelegt.

Die Beitragssätze in der Sozialversicherung unterscheiden sich im Jahr 2015 – teils deutlich – von denen im Jahr 2013 (Tabelle 4). Der Beitragssatz in der sozialen Pflegeversicherung wurde Anfang 2015 um 0,3 Prozentpunkte angehoben; der Beitragssatz für kinderlose Versicherte im Alter von mindestens 23 Jahren bleibt um 0,25 Prozentpunkte höher als der Satz für andere Versicherte. Der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung wird ab Jahresbeginn 2015 – abgesehen von der generellen Regelung – von den einzelnen Kassen festgesetzt; es wird erwartet, dass der kassenspezifische Beitrag im Durchschnitt 0,8 Prozentpunkte beträgt. Der Satz in der Rentenversicherung wurde Anfang 2015 auf 18,7 Prozent gesenkt. Der Satz in der Arbeitslosenversicherung beträgt unverändert 3 Prozent.

Anhand der relevanten Regelungen lassen sich die Sozialversicherungsbeiträge, die Lohnsteuer und der Solidaritätszuschlag errechnen (Tabelle 5). Die Lohnsteuer ergibt sich zunächst durch Anwendung des Steuertarifs 2014 auf das zu versteuernde Einkommen (BMF 2015a). Allerdings wird der Einkommensteuer­tarif rückwirkend zum Jahresbeginn 2015 geändert werden; der Grundfreibetrag beträgt dann 8 472 statt 8 354 Euro (BMF 2015b). Die Steuerschuld fällt daher für zu versteuernde Einkommen in der ersten Progressionszone um bis zu 22 Euro niedriger aus als nach dem im Jahr 2014 gültigen Tarif. Für alle höheren zu versteuernden Einkommen wird die Steuerschuld um 22 Euro geringer als nach dem Steuertarif 2014 sein.

Die Belastung durch die Sozialversicherungsbeiträge ist auch im Jahr 2015 bei hohen Löhnen umso niedriger, je höher der Lohn ist (Tabelle 6). Dies ist bedingt dadurch, dass es Beitragsbemessungs­grenzen gibt. Die Belastung durch die Lohnsteuer und die durch den Solidaritätszuschlag steigen mit zunehmendem Bruttolohn. Die gesamte Belastung steigt mit zunehmendem Bruttolohn, nimmt aber ab einer bestimmten Höhe des Lohns ab. Bezieht man die Lohnsteuer und den Solidaritätszuschlag auf die Arbeitskosten, so zeigt sich – bei etwas niedrigerem Niveau der Werte – der gleiche Verlauf der Quoten wie bei den am Bruttolohn gemessenen Belastungsquoten.

Die gesamte Belastung in der Abgrenzung der OECD ist in allen untersuchten Fällen im Jahr 2015 ungefähr so hoch wie im Jahr 2013. Während die Beitragsbelastung meist etwas geringer als im Jahr 2013 ist, ist die Steuerbelastung etwas höher. Für den Bezieher des Durchschnittslohns beträgt die gesamte Belastung im Jahr 2015  49,56 Prozent, nach 49,33 Prozent im Jahr 2013.

Kritische Bewertung der Methodik der OECD

Die Arbeitgeberbeiträge und der Bruttolohn zusammen sind die Arbeitskosten der Unternehmen. Die Unterscheidung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen ist infolge von Überwälzungsprozessen ökonomisch irrelevant. Letztlich tragen die Arbeitnehmer die Arbeitgeberbeiträge. Die Summe aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen ist auf die Arbeitskosten zu beziehen, soll die Belastung durch Beiträge adäquat gemessen werden. Dies sieht die OECD auch so. Jedenfalls werden auch Ergebnisse für die Sozialversicherungsbeiträge (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge) und die Abgaben insgesamt in Relation zu den Arbeitskosten ausgewiesen.

Der bei hohen Löhnen einsetzende Rückgang der Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge wird unter Verteilungsgesichtspunkten nicht nur von der OECD als problematisch angesehen. Die „Sozialbeiträge wirken ab den Beitragsbemessungs­grenzen regressiv“ (Bach et al. 2015: 152); in allen Zweigen sind natürlich nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte betroffen. Dagegen wirke die Einkommensteuer stark progressiv (ebenda: 152).

Diese Sicht der Dinge abstrahiert freilich von den Ausgaben, die durch die Beiträge finanziert werden. Teilweise gilt für die Beiträge – anders als für Steuern – das Äquivalenzprinzip. (Bach et al. (2015) sehen dies natürlich auch. „Soweit für die Leistungen der Sozialversicherung versicherungsäquivalente Beiträge erhoben werden, findet in zeitlicher Betrachtung letztlich keine Umverteilung zwischen Personen oder Generationen statt“ (Bach et al. 2015: 152).) Dabei gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung.

Die Beiträge zur allgemeinen Renten- und zur Arbeitslosenversicherung steigen für Löhne bis zur Beitragsbemessungsgrenze mit zunehmendem Bruttolohn. Das ist eine adäquate Regelung, weil die Leistungsansprüche (z.B. Arbeitslosengeld, Altersrente) grundsätz­lich mit steigendem Bruttolohn oder Nettolohn größer werden. Für Löhne oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ist der Beitrag zur allgemeinen Renten- und zur Arbeitslosenversicherung absolut gleich. Auch das ist grundsätzlich adäquat, weil die Gegenleistung absolut gleich ist. Wenn daher die Relation Beitrag zu Lohn (bzw. zu Lohn einschließlich Arbeitgeberbetrag) in diesem Bereich mit steigendem Lohn sinkt, so ist dagegen nichts einzuwenden, weil die Relation Leistungsanspruch zu Lohn entsprechend sinkt. Dies wird verkannt, wenn argumentiert wird, die Belastung sei ab der Bemessungsgrenze regressiv.

In der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung stellt sich die Lage anders dar. Sieht man von dem Krankengeld ab, das reichlich 5 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ausmacht, so bewirken (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) lohn­abhängige Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und zur sozialen Pflegeversicherung absolut gleiche Ansprüche (auf Arzneimittel, Arztleistungen, Pflegeleistungen, Krankenhausbehandlung etc.). („Im Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung besteht zwischen der individuellen Beitragshöhe und dem Umfang des dadurch erworbenen Versicherungsschutzes – ebenso wie in der sozialen Pflegeversicherung – praktisch keine Verbindung“ (Deutsche Bundesbank 2014: 33). Ausnahme ist das Krankengeld.) Adäquat wären – wieder abgesehen vom Krankengeld – absolut gleiche Beiträge („Kopfpauschale“). Auch für Löhne oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ist ein absolut gleicher Beitrag angemessen. „Die am besten geeignete Finanzierungsform für die SPV und die GKV ist nach wie vor eine einkommensunabhängige Finanzierung. … Allerdings ist diese nur dann sinnvoll, wenn sie in institutioneller Verbundenheit dieser beiden Sozialversicherungen etabliert wird“ (Sachverständigenrat 2014: 23, Ziffer 31). Bezieht man die Gegenleistung der Beiträge ein, so ist die Belastung nicht regressiv, sondern progressiv. Die lohnabhängige Beitragsfinanzierung der weitaus meisten Leistungen der gesetzlichen Kranken- und der sozialen Pflegeversicherung ist ein – auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten beschränktes – Element einer progressiven Belastung neben der Einkommensbesteuerung. Es wird über die Beiträge umverteilt, freilich nur innerhalb der Gruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

Für effiziente Umverteilungsmaßnahmen gibt es das Steuer- und Transfersystem. Wenn man gleichwohl innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung umverteilen will, dann kann man den hilfebedürftigen Beziehern niedriger Löhne Zuschüsse zu einer „Kopfpauschale“ gewähren. Einen Schritt in diese Richtung hatte eine Bundesregierung für die gesetzliche Krankenversicherung vor fast zehn Jahren durchgesetzt (Zusatzbeitrag mit Sozialausgleich). Die jetzige große Koalition hat die Regelung abgeschafft.

Insgesamt ist es – jedenfalls was die Verhältnisse in Deutschland betrifft – nicht zulässig, die Beitragsbelastung als regressiv („negativ progressiv“) einzustufen und mit der progressiven Einkommensteuerbelastung in einen Topf zu werfen. Die OECD verkennt bei ihren Analysen, dass Beiträge etwas anderes als Steuern sind (Boss 2014).

Die bisherige Beurteilung ist aber dadurch etwas zu relativieren, dass der Bund Zuschüsse an einzelne Zweige der Sozialversicherung zahlt (vgl. auch Bach et al. 2015: 152). Die Leistungen werden nicht total durch Beiträge finanziert. Der Zuschuss an die gesetzliche Rentenversicherung beträgt im Jahr 2015 rund 83 Mrd. Euro, der an die gesetzliche Krankenversicherung 11,5 Mrd. Euro. Die Zuschüsse belaufen sich im Verhältnis zu den Ausgaben der Rentenversicherung bzw. der Krankenversicherung auf rund 30 bzw. 5 ½ Prozent. Die Bewertung hängt davon ab, was für den Fall unterstellt wird, dass es Zuschüsse nicht gibt.

Nimmt man an, dass die Zuschüsse exakt den versicherungsfremden Leistungen entsprechen, so bleibt es bei der bisherigen Bewertung. Unterstellt man, dass die Leistungen der beiden Zweige der Sozialversicherung, die Zuschüsse erhalten, bei einem Fehlen der Zuschüsse entsprechend dem Anteil der Zuschüsse an den Gesamtausgaben geringer wären, so lässt sich konstatieren, dass entsprechend dem Anteil allgemeine Steuereinnahmen für Leistungen verwendet werden, die proportional zur Lohnhöhe sind. Nimmt man an, dass bei Fehlen der Zuschüsse die Beiträge höher wären, dann finanzieren die Zuschüsse lohnproportionale Transfers an die Versicherten. Insgesamt bleibt es dabei, dass die Vorgehensweise der OECD, nach der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge addiert werden, problematisch bzw. unzulässig ist.

Literatur

Bach, S., M. Grabka und E. Tomasch (2015). Steuer- und Transfersystem: Hohe Umverteilung vor allem über die Sozialversicherung. DIW Wochenbericht 8: 147–156.

BMF (Bundesministerium der Finanzen, Hrsg.) (2015a). Ihr persönlicher Lohn- und Einkommensteuerrechner. Via Internet (27. März 2015)

BMF (Bundesministerium der Finanzen, Hrsg.) (2015b). Bundesregierung beschließt Gesetzentwurf zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergelds und des Kinderzuschlags. Pressemitteilung Nr. 14 vom 25. März 2015. Via Internet (26. März 2015)

Boss, A. (2014). Die Lohnsteuer- und die Sozialabgabenbelastung ausgewählter Arbeitnehmerhaushalte in Deutschland 2013–2017. Kieler Arbeitspapier 1970. Institut für Weltwirtschaft, Kiel.

Deutsche Bundesbank (2014). Monatsberichte. Juli. Frankfurt am Main.

OECD (2014). Taxing Wages 2014. OECD Publishing. Via Internet (12. August 2014)

www.beitragsmessungsgrenze-online.de (2014). Beitragsbemessungsgrenze 2015. Via Internet (7. Oktober 2014) .

www.lohn-info.de (2014). Informationen zur Lohn- und Gehaltsabrechnung – Beitragsbemessungs­grenzen 2014. Via Internet (7. Oktober 2014)

www.lohn-info.de (2015). Informationen zur Lohn- und Gehaltsabrechnung – Sozialversicherungsbeitragssätze 2015. Via Internet (31. März 2015)

Sachverständigenrat (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) (2014). Mehr Vertrauen in Marktprozesse. Jahresgutachten 2014/15. Wiesbaden.

Steuergesetze (2014). Beck-Texte im dtv. 11. Auflage. München.

(Leicht überarbeitete Version eines Beitrags bei wirtschaftlichefreiheit.de vom 17.04.15.)