„Unsere“ aktive Leistungsbilanz

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Autor

  • Stefan Kooths
Erscheinungsdatum

Unausgeglichene Leistungsbilanzen – Defizite wie Überschüsse – sind im Zuge der weltwirtschaftlichen Stabilitätsdebatte verstärkt ins Visier der wirtschaftspolitischen Überwachung geraten. Ausgeprägte Salden gelten schnell als „makroökonomische Ungleichgewichte“. Als Diagnose wird den Defizitländern meist „mangelnde Wettbewerbsfähigkeit“ und den Überschussländern eine „zu schwache Binnennachfrage“ bescheinigt. Eine solche handelszentriert-hydraulische Betrachtung hantiert mit einem gesamtwirtschaftlich unpassenden Wettbewerbsbegriff und blendet die Wirkungskanäle über den Kapitalverkehr aus. Dieser trottet aber nicht einfach saldenmechanisch dem Außenhandel hinterher, nur weil sich Leistungs- und Kapitalbilanz definitorisch ausgleichen.

Experte IfW Kiel

Außenhandelsentscheidungen und internationale Anlageentscheidungen werden nicht uno actu, sondern von unabhängigen Akteuren mit unterschiedlichen Motiven getroffen. Die Koordination zwischen ihnen erfolgt indirekt über Rendite- und Güterpreissignale. Kapitalverkehr bedeutet temporäre Kaufkraftverlagerung. Strömt Kapital über die Grenze, so fließt Kaufkraft, ohne die kein Käufer am Gütermarkt zum Zuge kommt, ins Ausland (finanzwirtschaftlicher Aspekt). Dadurch steigen dort tendenziell die Preise (und Löhne), während sie im Inland sinken; bei flexiblen Wechselkursen bewirken diese direkt die Relativpreisänderungen. Im Ergebnis werden heimische Güter für das Ausland attraktiver und dem Kaufkraftstrom folgt der Leistungsstrom (güterwirtschaftlicher Aspekt). Eugen von Böhm-Bawerk hat dies einst in seiner Abhandlung „Unsere passive Handelsbilanz“ (Neue Freie Presse, 9. Januar 1914) in heutiger Diktion so zugespitzt: „Die Kapitalbilanz befiehlt, die Leistungsbilanz gehorcht.“

Kapitalströme werden durch erwartete Renditedifferenzen in Gang gesetzt. So fließt Kapital aus dem hochkapitalisierten Deutschland netto in den Rest der Welt, wo die Pro-Kopf-Kapitalausstattung im Schnitt geringer ist. Dies trägt zu einer globalen Renditeangleichung bei. Dabei kommt es nicht auf bilaterale Ströme an. Deutsches Kapital kann über viele Stationen (zum Beispiel über Luxemburg nach Großbritannien und von dort nach Lateinamerika) weitergeleitet werden.

Kapitalströme reflektieren ein güterwirtschaftliches Kalkül in der Zeitschiene, wodurch Ersparnisse (Verzicht auf Gegenwartskonsum) für Investitionen (Vorleistungen für Zukunftsproduktion) im In- und Ausland verfügbar werden. Diese intertemporale Betrachtung verweist auf ganz andere Ursachen als die Erklärung von Ein- und Ausfuhren derselben Periode über „nationale Wettbewerbsfähigkeitsmaße“.

Bei freiem Kapitalverkehr gibt es keine Verlierer und Gewinner, sondern nur Gewinner. Dieses Ergebnis wird zuweilen mit zwei Thesen angefochten. Es wird beklagt, dass Nettokapitalexporte zu Lasten der heimischen Investitionen gingen und so dem Inland schaden. Zugleich bezichtigt man Überschussländer einer „Beggar-thy-neighbour“-Politik, die die heimische Produktion „auf Kosten des Auslands“ ankurbeln wolle. Beide Argumente können nicht überzeugen.

Gelten Investitionen im Ausland als ertragreicher, so erhöht dies die erwarteten Konsummöglichkeiten im Inland. Zwar ist dann mit geringerem Wachstum der heimischen Produktion zu rechnen, dies wird aber durch höheres Wachstum des für den Konsum entscheidenden Nationaleinkommens mehr als ausgeglichen. Ein Hinweis auf die für bestimmte Zeiten magere Rendite des deutschen Auslandsvermögens trägt nicht. Es zeigt nur, dass private Anleger oder ihre (mitunter öffentlich-rechtlichen) Finanzintermediäre, denen sie ihre Ersparnisse anvertrauten, schlechte Arbeit geleistet haben („dummes deutsches Geld“). Dieses Problem besteht unabhängig von Leistungsbilanzsalden. Welche Investition sich im Inland oder im Ausland auszahlt, kann niemand mit Sicherheit voraussagen – am wenigsten ein staatliches Zentralamt. Es kommt immer auf die Erwartungen der Anleger an. Solange diese in der Haftung stehen, dürften sie die erforderliche Sorgfalt walten lassen. Ob zwischen den Beteiligten zufällig eine Landesgrenze verläuft, ist ökonomisch ohne Belang.

Leistungsbilanzüberschüsse gehen auch nicht zu Lasten des Auslands – im Gegenteil. Strömt Kapital in ein Land, so ist das von Vorteil, weil nun dort Güter über die eigene Produktion hinaus verfügbar sind und diese ergiebiger machen können. Landschaften, die Investoren anziehen, blühen auf, wenn dadurch marktfähige Produktionskapazitäten entstehen. Dann steigt trotz höherer Zinslast das Nationaleinkommen stärker, als es ohne den Kapitalzufluss der Fall wäre. Entfacht man aber einen unsoliden Bau- oder Konsumboom (wie in einigen Euro-Peripherieländern), bleiben außer Ruinen nur Schulden. Eine rasche Kapitalbilanzumkehr („sudden stop“) trifft vor allem kurzfristig finanzierte Projekte mit langen Amortisationszeiten – eine überzogene Fristeninkongruenz erweist sich dann als gravierender Fehler. Indem man die Investitionsprojekte nicht über ihre Laufzeit durchfinanziert hat, ist man dem entscheidenden Markttest ausgewichen: Man hat nie geprüft, ob die Anleger tatsächlich für den gesamten Amortisationszeitraum auf Konsum zu verzichten bereit waren. In der Krise zeigt sich dann, dass dieser Markttest nicht bestanden wird. Der Kapitalzustrom kommt zum Erliegen, da die Anleger dem verlorenen Kapital kein neues mehr hinterherwerfen. So fehlen nun die Produktionsmittel, um die überdimensionierten Projekte zu Ende zu führen, und die Länder durchlaufen schmerzhafte Anpassungsprozesse. Aus Sicht der saldenmechanischen „Beggar-thy-neighbour“-Kritiker müsste dies indes eine Wohltat sein: Über Nacht wäre bei einer Kapital- und Leistungsbilanzumkehr das „parasitäre“ Verhalten der vormaligen Überschussländer vorbei, und die Produktion in den ehemaligen Defizitländern sollte demnach wieder in Schwung kommen. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus.

Der Begriff der „Wettbewerbsfähigkeit von Ländern“ ist symptomatisch für eine Sicht, die Marktergebnisse nach Kriterien beurteilt, die nur für einzelne Akteure sinnvoll interpretierbar sind. Ein wettbewerbsunfähiges Unternehmen geht unter. Dieses Konzept ist für Länder nicht anwendbar. Die statistischen Daten weisen die (meist nach Nationalstaaten abgegrenzten) Marktergebnisse einer Rechnungsperiode aus. Es ist absurd, den Markt in Land X gegenüber dem Markt in Land Y für nicht „wettbewerbsfähig“ zu halten. Allenfalls werden die Marktakteure in Land X durch staatliche Regulierung daran gehindert, durch freie Preis- und Mengenbildung den gegenseitigen Vorteil zu finden. Dann sind aber die institutionellen Faktoren zu benennen, die diesen Ausgleich verhindern, anstatt ein nebulöses Konzept von „nationaler“ Wettbewerbsfähigkeit zu konstruieren. Auch die Unterscheidung zwischen preislicher und nicht-preislicher Wettbewerbsfähigkeit ist eine Chimäre – am Markt werden Preis-Leistungsbündel gehandelt. Wer eine bestimmte Leistung nicht bieten kann, muss entsprechend billiger sein. Güter und die in sie eingehenden Produktivkräfte sind niemals „unverkäuflich“ – es ist letztlich immer eine Frage des Preises. Die mit einem Preissenkungsdruck einhergehenden Einkommenseinbußen der Anbieter spiegeln ihr am Markt bewertetes Produktivitätsniveau wider. Mit diesem mag man unzufrieden sein. Dann soll man das Problem aber auch beim richtigen Namen nennen und es nicht hinter einer Nebelwand nationaler Wettbewerbsfähigkeit verschleiern. So hat etwa Griechenland in seiner Einkommensentwicklung kein Problem durch seine Außenbeziehungen, sondern es steht sich mit seinen unzulänglichen Regulierungen der eigenen Produkt- und Arbeitsmärkte selbst im Weg. Mit einem besseren Ordnungsrahmen könnten die Griechen ihre Ressourcen effizienter nutzen und so von ganz alleine zu mehr Wohlstand kommen – ganz unabhängig von dem, was der Rest der Welt macht. Ein Bergsteiger mit viel unnötigem Ballast im Rucksack hat ein Problem mit sich selbst und nicht mit denjenigen, die mit weniger Gepäck locker an ihm vorbeiziehen.

Zahlungsbilanzen zeigen die suggestive Kraft statistischer Abgrenzungen. Nur weil sie national erhoben werden, erscheinen ihre Ergebnisse schon ökonomisch belangvoll, und Teilbilanzsalden wächst plötzlich eine normative Note zu, die sie im Zweifel korrekturbedürftig macht. Wie steht es denn um den Leistungsbilanzsaldo des Ruhrgebiets? Wir kennen nicht einmal das Vorzeichen. Es kann uns auch egal sein. Wenn aber ein deutsches Unternehmen an der polnischen Westgrenze investiert statt an der deutschen Ostgrenze, dann halten das manche für wirtschaftspolitisch gravierend. Die Diskussion atmet den Geist des nationalen Kollektivismus, und statistische Aggregate werden plötzlich zu Akteuren. Solange die einzelwirtschaftlichen Investitions- und Ersparnisentscheidungen nicht durch falsche Rahmenbedingungen verzerrt sind (Investitionshemmnisse, Bail-outs, monetäre Zahlungsbilanzfinanzierung, Niedrigzinspolitik), muss man sich über das marktwirtschaftliche Gesamtergebnis keine Sorgen machen. Leistungsbilanzsalden sind daher allenfalls als Symptom für solche Verzerrungen zu sehen, die das eigentliche wirtschaftspolitische Problem darstellen.

Leistungsbilanzausgleich als Zielvorgabe liefe darauf hinaus, Chancen der globalen Arbeitsteilung zu schmälern und käme finanzwirtschaftlichem Autarkiestreben gleich. Im Ergebnis hinge es dann an Landesgrenzen, wo Ersparnisse anzulegen sind. Die Trennung von Ersparnis- und Investitionsentscheidungen ist eine produktive Triebkraft des Kapitalismus – binnenwirtschaftlich wie grenzüberschreitend. Und anders als die sonst fällige staatliche Investitionslenkung oder eine diffuse Makrosteuerung macht diese Kraft die Menschen reicher, nicht ärmer.

(Erweiterte Version eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2014 unter dem Titel „Die Trugbilder der Leistungsbilanz“.)