Niedrigzinspolitik der EZB: Risiko für Deutschland

Kiel Focus Cover

Autoren

  • Joachim Scheide
  • Björn van Roye
Erscheinungsdatum

Die Europäische Zentralbank (EZB) setzt ihre Politik der niedrigen Zinsen fort. Da sie sich bei ihrer Geldpolitik an der durchschnittlichen Preisentwicklung im Euro-Währungsgebiet orientiert, scheint ein Leitzins von derzeit 0,25 Prozent angemessen zu sein, ist doch die Inflation niedrig und verläuft die konjunkturelle Erholung sehr schleppend.

Die Europäische Zentralbank (EZB) setzt ihre Politik der niedrigen Zinsen fort. Da sie sich bei ihrer Geldpolitik an der durchschnittlichen Preisentwicklung im Euro-Währungsgebiet orientiert, scheint ein Leitzins von derzeit 0,25 Prozent angemessen zu sein, ist doch die Inflation niedrig und verläuft die konjunkturelle Erholung sehr schleppend. Allerdings befinden sich die Mitgliedsländer in äußerst unterschiedlichen konjunkturellen Situationen, so dass das Zinsniveau nicht für alle angemessen ist. So ist die Geldpolitik für die Verhältnisse in Deutschland bereits seit einigen Jahren zu expansiv ausgerichtet. Und durch die sogenannten unkonventionellen Maßnahmen wird der Expansionsgrad sogar noch erhöht. In der Folge droht hierzulande ein Boom, der typischerweise mit erheblichen Fehlentwicklungen verbunden ist. Dies erhöht das Risiko für die Finanzstabilität und für einen massiven konjunkturellen Rückschlag.

Ein gängiger Maßstab für den Expansionsgrad der Geldpolitik ist die Taylor-Regel, benannt nach dem US-amerikanischen Ökonomen John Taylor. Diese Regel hat sich in der Forschung etabliert, um das Verhalten von Notenbanken zu beschreiben. In gängigen ökonomischen Modellen stellt sie eine Norm dar: Folgt die Notenbank dieser Regel, werden die gesamtwirt­schaftlichen Ziele am besten erreicht (stabile Preise bei möglichst geringen konjunkturellen Schwankungen). Der angemessene Zins bestimmt sich nach der Differenz zwischen der aktuellen Inflationsrate (oder auch der Inflationserwartungen) und dem Inflationsziel sowie nach der Höhe der gesamtwirtschaftlichen Kapazitätsauslastung. Zwar ist die Schätzung des „richtigen“ Zinses mit erheblicher Unsicherheit behaftet, denn in die Regel geht auch der sogenannte natürliche Zins ein, der empirisch schwer zu bestimmen ist. Dennoch kann man die entscheidenden Größen für die praktische Analyse im Nachhinein recht gut approxi­mieren.

Wenn man so den „angemessenen“ Zins für eine Volkswirtschaft ableiten kann, ist es ebenso möglich, eine Abweichung von der Norm so zu interpretieren, dass der Zins entweder zu niedrig oder zu hoch ist, um makroökonomische Stabilität zu gewährleisten. John Taylor selbst hat diesen Maßstab immer wieder verwendet, um zu zeigen, dass die Politik der amerikanischen Notenbank vor Ausbruch der Finanzkrise zu expansiv war: In den Jahren 2002 bis 2006 lag der Leitzins deutlich unter dem Niveau, das nach der Regel eine angemessene Geldpolitik bedeutet hätte. Somit haben die zu niedrigen Zinsen zum Boom und zur Immobilienblase beigetragen, und insofern ist die Geldpolitik mitverantwortlich für die anschließende Krise.

Analog lässt sich für die ersten Jahre nach Beginn der Europäischen Währungsunion zeigen, dass der einheitliche Leitzins für einige Mitgliedsländer viel zu niedrig war. So boomte die Konjunktur in Spanien und Irland nach 1999 bei deutlich höherer Inflation als im Durch­schnitt des Euroraums. In dieser Zeit war der Realzins dort längere Zeit sogar negativ. Somit wurde die Konjunktur nicht gedämpft, sondern der Boom wurde über eine explodierende Kreditvergabe befeuert, und die private Verschuldung schoss in die Höhe.

Gemessen an der Taylor-Regel hätte der Leitzins für Spanien nach unseren Berechnungen in der Zeit 1999–2006 um etwa 400 Basispunkte höher sein müssen. Damit keine Missverständ­nisse entstehen: Dies ist keine Kritik an der Politik der EZB. Sie kann darauf verweisen, dass sie in der Zeit ihr Inflationsziel im Durchschnitt erreicht hat. Nur liegt es in der Natur einer Währungsunion, dass der einheitliche Leitzins bei unterschiedlicher Inflations- oder Konjunkturentwicklung nicht für alle Länder angemessen sein kann.

In jüngster Zeit ist in den einzelnen Ländern des Euroraums nicht nur die Inflationsrate, sondern auch die konjunkturelle Lage wiederum sehr unterschiedlich. So ist die Konjunktur in Deutschland sehr robust, und die Inflationsrate liegt hierzulande leicht über dem Durchschnitt, wenn sie derzeit auch noch niedrig ist. Auch ist der Realzins deutlich negativ, was die Konjunktur stimulieren dürfte. So wird die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahren, wenn neue Hiobsbotschaften ausbleiben, wohl eine Hochkonjunktur erleben mit all den Fehlentwicklungen, die damit verbunden sind. Denn viele Investitionen werden nur vorgenommen, weil die Zinsen extrem niedrig sind. Selbst wenn keine Immobilienblase entsteht, dürfte der Wohnungsbau befeuert werden, und die privaten Haushalte werden sich wohl zunehmend verschulden.

Ist ein Vergleich mit Spanien angebracht? Derzeit sieht es nicht so aus, und es ist auch unwahrscheinlich, dass sich die Lage ähnlich zuspitzt. So sind die Kreditvergabestandards hierzulande restriktiver, nicht zuletzt aufgrund niedrigerer Beleihungsquoten. Dennoch: Ein monetär induzierter Boom ist kaum zu vermeiden. Bereits seit rund vier Jahren liegt der Leitzins um etwa 200 Basispunkte unter dem Zins, der sich aus der Taylor-Regel ergibt. Aller Voraussicht nach wird sich dieser Abstand in den kommenden Jahren sogar noch vergrößern, denn die EZB dürfte die Leitzinsen vorerst nicht anheben. Und wenn sie erste Schritte einleitet, werden sich die Kapazitätsauslastung und die Inflation in Deutschland deutlich stärker erhöht haben, als es im übrigen Euroraum der Fall sein wird.

Nach der Prognose des IfW wird der Zins für Deutschland noch weitere vier Jahre deutlich zu niedrig sein. Es drohen uns also spanische Verhältnisse, was das geldpolitische Umfeld angeht. Die Wirtschaftspolitik in Deutschland ist gefordert, die Fehlentwicklungen, die aus dem monetär induzierten Boom folgen, so weit wie möglich zu begrenzen. Dies setzt allerdings voraus, dass die Politik dieser Diagnose ins Auge sieht und sich nicht in den konjunkturell vermeintlich günstigen Zeiten sonnt. Vor allem muss es darum gehen, systemische Risiken zu begrenzen. Dies beginnt damit, dass große Finanzinstitute aus eigenem Antrieb ihr Risiko begrenzen, weil sie nicht länger mit staatlichen Bailouts rechnen können. Darüber hinaus wären verschärfte Finanzmarktregeln im Rahmen der makroprudenziellen Politik sinnvoll; hierzu gehören insbesondere eine spürbare Erhöhung des haftenden Kapitalpuffers sowie niedrigere Verschuldungshebel. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um die Anfälligkeit des Finanzsystems im Zuge der Korrektur des Booms zu verringern.

(Leicht überarbeitete Version eines Gastbeitrags in der Börsenzeitung vom 9. Mai 2014 unter dem Titel „EZB-Niedrigzinspolitik ist ein Risiko für Deutschland“.)