Die Allmacht der EZB ist eine Illusion

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Autor

  • Joachim Scheide
Erscheinungsdatum

Lange Zeit gab es einen „Konsens“ über die Rolle der Geldpolitik: Notenbanken können und sollen die Inflation niedrig halten, sie können aber letztlich nicht realwirtschaftlich bedingte Probleme lösen. Heute befinden sich wichtige Notenbanken auch sechs Jahre nach Ausbruch der Krise im Krisenmodus und betreiben eine Politik, die weit mehr Ziele verfolgt, als sie erreichen kann.

Lange Zeit gab es einen „Konsens“ über die Rolle der Geldpolitik: Notenbanken können und sollen die Inflation niedrig halten, sie können aber letztlich nicht realwirtschaftlich bedingte Probleme lösen. Heute befinden sich wichtige Notenbanken auch sechs Jahre nach Ausbruch der Krise im Krisenmodus und betreiben eine Politik, die weit mehr Ziele verfolgt, als sie erreichen kann. So versucht die EZB, die Zinsstruktur zu manipulieren und soll zudem noch für die Finanzstabilität sorgen. Außerdem ist sie bemüht, die Konjunktur anzuregen und betreibt, auch um die wirtschaftliche Aktivität in den Krisenländern zu stützen, eine regionale Geldpolitik, indem sie unterschiedliche Anforderungen an notenbankfähige Sicherheiten stellt. Dies ist für eine Währungsunion ungewöhnlich und wäre zum Beispiel in den USA undenkbar. Mit den im Juni dieses Jahres beschlossenen Maßnahmen geht sie sogar noch weiter: Die „Targeted LTRO“ zielt darauf ab, Banken dazu zu bringen, Kredite an Unternehmen in bestimmten Segmenten außerhalb des Finanzsektors zu vergeben, was die Banken derzeit offenbar deshalb nicht tun, weil sie es eigentlich für zu riskant halten. Und schließlich hat die EZB angekündigt, alles zu tun, um den Euro zu retten.

Der am weitesten reichende Eingriff der EZB war allerdings keine direkte Intervention an den Märkten, sondern die Ankündigung des unbegrenzten Aufkaufs von Staatsanleihen (OMT) vor knapp zwei Jahren. Allein diese Ankündigung hat offenbar mehr bewirkt als jede andere Maßnahme. So sind seither die Zinsen für Staatsanleihen von ihren relativ hohen Ständen Mitte 2012 so stark gesunken, dass sie für einige Länder, etwa Italien, ein historisch niedriges Niveau erreicht haben. Gleichzeitig sind jedoch die Staatsschuldenquoten in den betroffenen Ländern sogar weiter gestiegen, und eine Stabilisierung selbst auf hohem Niveau – eine Mindestvoraussetzung für eine nachhaltige Finanzpolitik – ist bislang nicht erreicht.

Wie lassen sich solch massive Eingriffe in den Marktmechanismus rechtfertigen? Offenbar hielt die EZB die Renditen für Staatsanleihen einiger Länder damals für zu hoch. Zwei Interpretationen sind möglich: Sollten sie derzeit auf dem richtigen, fundamental gerechtfertigten Niveau liegen, lässt sich schwerlich begründen, warum die Staaten eigentlich noch ihre Haushalte konsolidieren sollen, denn ein Risiko besteht allem Anschein nicht mehr. Folglich hätten all jene Politiker Recht, die ohnehin kein Interesse daran haben und am liebsten alle Regeln auf europäischer Ebene ignorieren. Wären die Zinsen derzeit aber zu niedrig, weil die EZB den Märkten fälschlicherweise signalisiert, dass alle Staatsanleihen sicher sind, so wären die Risikoprämien verschwunden, die die Anleger gewöhnlich verlangen. Die EZB hebelt die Marktkräfte aus mit dem Risiko, dass es zu weiteren Fehlentwicklungen kommt. Und durch die jüngsten Schritte können Banken sogar verleitet werden, noch mehr Staatsanleihen zu kaufen. Erinnern wir uns: Nicht zuletzt die EZB hatte vor Ausbruch der Finanzkrise gewarnt, die Investoren würden die Risiken von Anlagen zu gering bewerten, was damals sicherlich eine richtige Diagnose war.

Nach den Eingriffen der EZB entscheidet der Markt nicht mehr allein über Risikoeinschätzungen. Was soll uns das sagen? Haben wir ein Marktversagen in großem Stil erlebt, das die EZB nun, der allgemeinen Mode folgend, korrigieren will? Wer haftet denn, wenn auch dieses Experiment schiefgeht? Wie geht die EZB als Bankenaufseherin damit um, dass Geschäftsbanken möglicherweise zu große Risiken bei der Kreditvergabe eingehen, angeregt durch die Geldpolitik des Eurosystems?

Diese Rolle, die die EZB inzwischen beansprucht, hat man ihr nicht zugeschoben, sondern sie hat sie praktisch an sich gerissen nach dem Motto: „Monetary policy is the only game in town“. War es anfangs noch so, dass die EZB Feuerwehr spielen musste, um Schlimmeres zu verhindern, weil die Regierungen ihre Aufgaben nicht erledigen konnten oder wollten, hat die EZB nun von sich aus das Kommando übernommen. Sie geht sogar in Vorleistung, ohne das mit irgendeinem Druck auf die Regierungen zu verbinden. So kündigte Mario Draghi Anfang Juni an: „We are not finished yet”. Offensichtlich unkonditioniert stellt die Notenbank also weitere Schritte in Aussicht, um die Konjunktur anzukurbeln, vorzugsweise in den Krisenländern. Wie bitte soll das gehen?

Um aus der Sackgasse herauszukommen, muss die EZB unmissverständlich klar machen, dass die Verantwortung für die Lösung der Krise bei den Regierungen liegt. Andernfalls verlassen sich die anderen wirtschaftspolitischen Akteure auf die EZB. Die Notenbank kann keine Verantwortung übernehmen für etwas, was sie letztlich gar nicht steuern kann.

(Leicht überarbeitete Version eines Gastbeitrags auf capital.de vom 23. Juni 2014)