Baustelle Europa

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Autor

  • Henning Klodt
Erscheinungsdatum

Die Stimmung in Europa scheint zu kippen. Während die Idee eines vereinten Europas ohne nationale Grenzbarrieren nach wie vor als erstrebenswertes Ideal erscheint, werden die real existierenden europäischen Institutionen – allen voran die Europäische Kommission – zunehmend negativ wahrgenommen. Wie im Folgenden dargelegt, steckt dahinter nicht etwa das Unbehagen über die gemeinsame Währungsunion, sondern der fehlerhafte Bauplan, der dem europäischen Integrationsprozess zugrunde liegt.

Die Stimmung in Europa scheint zu kippen. Während die Idee eines vereinten Europas ohne nationale Grenzbarrieren nach wie vor als erstrebenswertes Ideal erscheint, werden die real existierenden europäischen Institutionen – allen voran die Europäische Kommission – zunehmend negativ wahrgenommen. Wie im Folgenden dargelegt, steckt dahinter nicht etwa das Unbehagen über die gemeinsame Währungsunion, sondern der fehlerhafte Bauplan, der dem europäischen Integrationsprozess zugrunde liegt.

Ablesbar ist das Stimmungstief an den Ergebnissen der Umfragen, die die Europäische Kommission regelmäßig in den Mitgliedsländern durchführen lässt, um die Stimmungslage bei den Bürgern zu ermitteln. Die zentrale Frage dieses so genannten „Eurobarometers“ lautet, ob die EU ganz allgemein bei den Bürgern ein positives oder negatives Bild hervorruft. Bei den Antworten dazu ist es über die Zeit zu dramatischen Verschiebungen gekommen. Hatten im Frühjahr 2002 noch fast 50 Prozent der Bevölkerung ein positives Bild von der EU, so ist dieser Anteil bis zum Frühjahr 2013 auf 30 Prozent zusammengeschrumpft. Im Gegenzug stieg der Anteil der Bürger, die ein negatives Bild von der EU haben, von 14 Prozent auf 29 Prozent (siehe Abbildung).

Abbildung – Welches Bild ruft die EU bei Ihnen hervor? (Eurobarometer Frage 13: Antworten in Prozent)

Die weiteren Ergebnisse des Eurobarometers zeigen, dass auch die Zustimmung zur Währungsunion rückläufig ist, aber bei Weitem nicht so stark, wie die zur EU im Allgemeinen. Im Frühjahr 2006, als die heutige Schuldenkrise im Euroraum noch unvorstellbar erschien, waren 59 Prozent aller Befragten für und 34 Prozent gegen die Währungsunion; im Frühjahr 2013 war der Anteil der Befürworter auf lediglich 51 Prozent gesunken und der Anteil der Kritiker auf 42 Prozent gestiegen.

Das Stimmungstief, in dem sich die Europäische Union offenkundig befindet, weckt Erinnerungen an die 1970er Jahre, als die EU in den Augen der Bürger weitgehend gleichgesetzt wurde mit einer überbordenden Regulierungswut der Brüsseler Bürokraten und einer monströsen Agrarpolitik, die durch Milchseen und Butterberge gekennzeichnet war. Die Wende brachte damals das so genannte Binnenmarktprogramm, das im Jahr 1985 von der EU-Kommission unter Jaques Delors verabschiedet wurde. Zwar waren Agrarpolitik und Brüsseler Bürokratie nicht vergessen, aber als positive Elemente prägten jetzt vor allem die Abschaffung der Grenzkontrollen und die Reisefreiheit innerhalb der EU das Bild. Später kam dann auch noch die gemeinsame Währung hinzu, die zwar in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden einen wehmutsvollen Abschied von der eigenen Währung bedeutete, die aber der Idee der europäischen Integration insgesamt neuen Glanz verlieh.

Mittlerweile sind wir offenbar wieder im Stimmungstief angekommen. Diesmal ist es allerdings so ausgeprägt, dass EU-Kommissar Günther Oettinger die gesamte EU kürzlich als „Sanierungsfall“ gekennzeichnet hat. Es gibt also allen Grund für eine grundlegende Neubesinnung darüber, wo die eigentlichen Aufgaben der Europäischen Union liegen – und wo nicht.

Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz

Zu dem sich verschlechternden Bild der EU trägt sicherlich bei, dass die Brüsseler Regulierungsexzesse mittlerweile wieder zunehmen. Wenn die EU-Kommission beispielsweise in ihrer Verordnung Nr. 509/2006 festlegt, dass eine echte Pizza Napoletana einen Durchmesser von maximal 35 cm aufweisen darf, im Inneren 0,4 cm dick zu sein hat (+/–10 Prozent) und weich und elastisch sein und sich wie ein Buch zusammenklappen lassen soll, dann mag man sich fragen, ob es keine drängenderen Probleme gibt, um die sich Brüssel kümmern sollte. Auch der Sinn der EU-weit geltenden Seilbahnverordnung erschließt sich nicht jedermann, wenn sie beispielsweise die Bundesländer Berlin und Brandenburg dazu zwingt, entsprechende Sicherheitsvorschriften zu erlassen, obwohl es in diesen Ländern gar keine Seilbahnen gibt. Der jüngste Beitrag zum Kuriositätenkabinett war der Vorstoß aus Brüssel, offene Karaffen mit Speiseöl von Europas Restauranttischen zu verbannen. Sie hat von diesem aberwitzigen Vorschlag zwar wieder Abstand genommen, aber bei der Bevölkerung wecken solche und andere Aktionen den begründeten Verdacht, dass die Brüsseler Regulierungswut wieder und wieder über das Ziel hinausschießt.

Dabei bietet der EU-Vertrag durchaus Anhaltspunkte dafür, in welchen Bereichen Brüssel tätig werden sollte und in welchen eher nicht. In Artikel 5 Abs. 3 des EU-Vertrags heißt es dazu: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“

Wie diese Generalklausel interpretiert werden sollte, lässt sich aus ökonomischer Sicht anhand der Theorie des fiskalischen Föderalismus beurteilen, die vor allem mit den Namen Mancur Olson und Wallace Oates verbunden ist. Sie haben herausgearbeitet, dass es für die optimale Aufgabenteilung zwischen verschiedenen Regierungsebenen darauf ankommt, eine möglichst große Kongruenz zwischen den Nutznießern und den Zahlern der betreffenden öffentlichen Leistung herzustellen. Dieses so genannte Prinzip der fiskalischen Äquivalenz kann als ökonomische Spezifikation des juristischen Begriffs der Subsidiarität angesehen werden.

Die Subsidiarität steht Kopf

Wenn man das Raster der Theorie des fiskalischen Föderalismus anlegt, können die verschiedenen Politikbereiche in drei Kategorien eingeteilt werden. In die erste Kategorie fallen Politiken, die sinnvollerweise auf der Gemeinschaftsebene angesiedelt sein sollten:

  • Ausgeprägte Effizienzvorteile dürfte eine gemeinsame Außenpolitik der EU sowie eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bieten.
  • Analoge Argumente gelten für den Bereich der Handelspolitik. Auch hier wird die Durchsetzungskraft auf internationaler Ebene bei einer gemeinschaftlich organisierten Politik deutlich stärker sein als bei zersplitterter nationaler Einzelpolitik.
  • Ein weiterer Politikbereich, in dem sich starke ökonomische Vorteile durch Zentralisierung ergeben dürften, ist die Wettbewerbspolitik. Sie dient der Wahrung der Handelsfreiheit und ist daher ein wichtiges Instrument zur Sicherung der Grundprinzipien des gemeinsamen Marktes.

In die zweite Kategorie fallen Politiken, die teilweise auf Gemeinschaftsebene und teilweise auf nationaler Ebene angesiedelt sein sollten:

  • In der Verkehrspolitik sollte zwischen der Verkehrsordnungspolitik und der Infrastrukturpolitik unterschieden werden. Für eine gemeinschaftliche Verkehrsordnungspolitik gelten ähnliche Argumente wie für die Wettbewerbspolitik. Bei der Verkehrsinfrastruktur dagegen sind die Nutznießer in erster Linie innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten anzutreffen, so dass die Ausgestaltung als auch die Finanzierung in diesem Bereich den Mitgliedsstaaten vorbehalten werden sollte.
  • Welche Bereiche der Umweltpolitik in die Kompetenz der EU fallen sollten, hängt wesentlich davon ab, ob die Umweltschäden regional, national oder international streuen. So sollte sich Brüssel aus den Entscheidungen über Umweltauflagen in Bezug auf stehende Gewässer, Boden, regionale Ökosysteme oder Lärmbelästigung heraushalten. Entscheidungen über die Belastung fließender Gewässer sollten, soweit diese Gewässer nationale Grenzen überqueren, bilateral getroffen werden. Der Klimaschutz dagegen wäre eigentlich eine Aufgabe für eine globale Weltregierung. Doch da es eine solche nicht gibt, ist hier eine Gemeinschaftskompetenz sinnvoll.
  • Bei der Regionalpolitik ist zu unterscheiden zwischen der Finanzierung und der Spezifizierung der jeweiligen Maßnahmen. Soweit mit der Regionalpolitik Umverteilungsziele zwischen den Mitgliedsstaaten verfolgt werden, müssen Mittel von den reicheren in die ärmeren Mitgliedsstaaten umgelenkt werden, was nur bei zentraler Kompetenz möglich erscheint. Wofür das Geld dann konkret ausgegeben wird, sollte allerdings nicht in Brüssel, sondern vor Ort entschieden werden, denn dort ist das Wissen darüber, welche Projekte sinnvoll und welche weniger sinnvoll sind, am größten.
  • Einen Mischbereich stellt auch die Forschungs- und Technologiepolitik dar. Nur im Bereich der Grundlagenforschung könnte eine Gemeinschaftspolitik ökonomisch sinnvoll sein, nicht dagegen bei der angewandten Forschung.

In die dritte Kategorie fallen Politiken, die ausschließlich auf nationaler Ebene oder sogar noch darunter angesiedelt werden sollten, da eine Übertragung von Kompetenzen auf die EU mit erheblichen Wohlfahrtsverlusten verbunden sein dürfte:

  • Keinerlei ökonomische Zentralisierungsvorteile sind in der Agrarpolitik zu erkennen, denn die Nutznießer lassen sich innerhalb der nationalen Ländergrenzen recht eindeutig identifizieren. Darüber hinaus weist die Agrarproduktion ausgeprägte nationale Besonderheiten auf, die es wenig sinnvoll erscheinen lassen, die Agrarpolitik beispielsweise der Mittelmeerländer mit der Agrarpolitik in Mittel- und Osteuropa in einen Topf zu werfen.
  • Analoge Argumente gelten für alle anderen Formen sektoraler Industriepolitik. Welche Vorteile es bringen soll, die Politik für die Stahlindustrie auf europäischer und nicht auf nationaler Ebene festzulegen, ist schwer ersichtlich.

Wenn man die tatsächliche Kompetenzverteilung in der Europäischen Union unter die Lupe nimmt, kann man den Eindruck gewinnen, das Prinzip der Subsidiarität sei auf den Kopf gestellt. Die Agrarpolitik verschlingt immer noch rund 40 Prozent des gesamten EU-Haushalts, während eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik praktisch nur auf dem Papier existiert. Lediglich die Handelspolitik und die Wettbewerbspolitik sind in der EU dort angesiedelt, wo sie nach der Theorie des fiskalischen Föderalismus hingehören, nämlich auf der gemeinschaftlichen Ebene.

Auch innerhalb derjenigen Politikbereiche, die hier in die Kategorie 2 eingeordnet wurden, steht das Subsidiaritätsprinzip gelegentlich Kopf. So ist die Forschungs- und Technologiepolitik, die von der Europäischen Union selbst betrieben wird, im Durchschnitt deutlich stärker auf die angewandte Forschung und weniger auf die Grundlagenforschung ausgerichtet als die nationalen Forschungs- und Technologiepolitiken. Und in der Regionalpolitik, die im Wesentlichen über die Strukturfonds abgewickelt wird, entscheidet Brüssel nicht nur über die Finanzierung, sondern auch über die Ausgestaltung der einzelnen Maßnahmen mit.

Subsidiarität auf die Füße stellen!

Wie die wirtschaftspolitischen Kompetenzen in der EU tatsächlich verteilt sind, dürfte den meisten Bürgern, die vom Eurobarometer befragt werden, weitgehend unbekannt sein. Sie scheinen aber, wie die zitierten Befragungsergebnisse belegen, durchaus ein Gespür dafür zu haben, ob die Grundstruktur der politischen Aufgabenteilung in Europa adäquat ist oder nicht. Das zunehmende Unbehagen über den Weg, den Brüssel geht, ist unübersehbar geworden. Und das Unbehagen ist dort am größten, wo sich die EU übermäßig zentralistisch gebiert. Die verschiedenen Institutionen in der Europäischen Union wären also gut beraten, über eine Neujustierung der Kompetenzverteilung zwischen gemeinschaftlicher und nationaler Ebene nachzudenken.

Dass diese Einschätzung durchaus in Einklang steht mit den Präferenzen der Bürger in der EU, zeigt ein letzter Blick auf das Eurobarometer vom Frühjahr 2013. Frage 14 lautet: „Was bedeutet die EU für Sie persönlich?“ Den höchsten Anteil der Nennungen (Mehrfachnennungen möglich) erhielt dabei mit 42 Prozent „Die Freiheit, überall innerhalb der EU reisen, studieren und arbeiten zu können“. Auf Rang 2 folgt mit 33 Prozent „Der Euro“. Rang 3 unter den positiv belegten Werten erreicht mit 25 Prozent der Begriff „Friede“. Unter den negativen Werten ragen die Begriffe „Geldverschwendung“ mit 27 Prozent und „Bürokratie“ mit 24 Prozent hervor.

(Aktualisierung und Kurzfassung eines Beitrags, der unter dem Titel „Baustelle Europa – Subsidiarität als Konstruktionsprinzip“ in der Zeitschrift „Wirtschaftspolitische Blätter“, Jg. 60 (2013), Heft 2 erschienen ist)

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